Kampf um Gaddafis Residenz: Tausende Tote in Tripolis
Es herrscht Krieg in der Hauptstadt. Der Ex-Machthaber Gaddafi bleibt bislang verschwunden. Rebellen stürmen seine Residenz. Dort gibt es jedoch ein ausgedehntes Tunnelsystem.
BERLIN taz | Nach heftigen Kämpfen haben die libyschen Rebellen am Dienstag die Residenz von Muammar al-Gaddafi in Tripolis erobert, wo der Machthaber vermutet wurde. Die Rebellen kontrollierten nach eigenen Angaben vier Fünftel der Hauptstadt. Auch den Ölhafen Ras Lanuf östlich von Tripolis nahmen die Aufständischen demnach ein.
Ein AFP-Repeorter berichtete vor Ort, zwei Tage nach ihrem Einmarsch in Tripolis hätten hunderte Rebellen das Gaddafi-Hauptquartier im Komplex Bab el Asisija gestürmt. Sie hätten Betonmauern der Anlage zum Einsturz gebracht, seien in den Komplex eingedrungen und hätten Gaddafis Hauptquartier eingenommen.
Hilfsorganisationen machen sich zunehmend Sorgen über die Auswirkungen der andauernden Kämpfe in der libyschen Hauptstadt Tripolis auf die Zivilbevölkerung, vor allem angesichts der sehr hohen Opferzahlen. In einer Erklärung heißt es: "In einem Krankenhaus, das wir heute besucht haben, war nur ein Arzt für 25 Patienten übrig, darunter 15 Schwerverletzte", so der Leiter der Delegation des Internationalen Roten Kreuzes (IKRK) in Tripolis, George Comminos.
Man sei dabei, Materialien zur Notversorgung zu verteilen, aber "bislang haben wir wegen der Kämpfe nur beschränkten Zugang". Man stehe im Dialog sowohl mit dem belagerten Gaddafi-Regime als auch mit den Aufständischen und könne daher "trotz der sehr beweglichen Frontlinien" arbeiten.
"Ärzte ohne Grenzen" bezeichnet Lage "dramatisch"
In den Tagen zuvor hatten unterschiedliche Quellen berichtet, die Zahl der Toten in Tripolis gehe in die Tausende: 1.300 laut der Gaddafi-Regierung, 2.000 laut dem Nationalrat der Rebellen. Damit wäre eine noch größere Zahl von Verletzten zu vermuten.
Die Lage sei dramatisch, bestätigte Mike Bates, Direktor des Hilfswerks "Ärzte ohne Grenzen" (MSF) in Tripolis: "Manche Krankenhäuser haben keine lebensrettenden Medikamente mehr. Es gibt wenig Strom und zu wenig Treibstoff, um Krankenhäuser und wichtige Geräte am Laufen zu halten."
Berichten zufolge ist nur noch ein Krankenhaus in der Millionenstadt Tripolis überhaupt noch voll funktionsfähig.
Die Kämpfe in Tripolis konzentrierten sich gestern auf Gaddafis Residenzkomplex Bab al-Asisiyah, ohne dass Gaddafis Anwesenheit dort bestätigt war. Er soll sich in den Bunkern unter der Anlage befinden, lautet die geläufigste Spekulation.
Riesiges Tunnelsystem
Ein einst dort tätiger irischer Ingenieur berichtete dem britischen TV-Sender "Channel Four", es gebe ein kilometerlanges Bunker- und Tunnelsystem unter der Residenz, das sich bis zum internationalen Flughafen erstrecken soll.
Die Anlage wurde gestern mehrfach von Nato-Flugzeugen bombardiert. Schwere Gefechte gab es auch in der Umgebung des Rixos-Hotels, wo von der libyschen Regierung akkreditierte ausländische Korrespondenten wohnen müssen. Diese wurden in den Keller gebracht.
Der britische Journalist Nick Meo schaffte es, die Nacht zum Dienstag in einem Privathaushalt in Tripolis zu verbringen - im laufenden Fastenmonat Ramadan sind die Menschen vor allem nachts auf den Straßen.
"Im Distrikt Hai al-Andalus haben Libyer ihre eigenen bewaffneten Patrouillen aufgestellt und hören zu, wie eine Meile weiter gekämpft wird", beschrieb er seine Erlebnisse auf der Webseite des britischen Daily Telegraph. "Sie haben keine Angst vor Plünderungen, aber sie haben Angst vor infiltrierten Gaddafi-Loyalisten oder einem Gegenangriff aus Bab al-Asisiyah, der rund zwei Meilen entfernt ist. Das Chaos auf den Straßen fühlt sich an wie Bagdad 2003. Aber hier sind es Gaddafis Loyalisten, die Probleme bereiten, nicht Plünderer."
Kämpfer verlegt
Um Tripolis endgültig zu erobern, verlegten die Rebellen 2.000 Kämpfer aus dem Osten Libyens über Misurata in die Stadt, berichtet ein Guardian-Reporter.
Über das Vorgehen der Aufständischen in der Stadt berichtet ein AFP-Korrespondent: "Sie sind sich unsicher, wie sie vorrücken sollen: schnell über die Boulevards, aber den Scharfschützen auf den Dächern ausgeliefert; oder langsam durch die Seitengassen, wo man nicht weiß, was einen an der nächsten Ecke erwartet."
Der Grüne Platz im Stadtzentrum, den die Rebellen in "Platz der Märtyrer" umbenannt haben, werde jetzt von Rebellen aus dem westlibyschen Zawiyah kontrolliert, aber in der nahen Altstadt seien Scharfschützen aus Tschad aktiv.
Auch außerhalb von Tripolis setzten die Aufständischen ihre Eroberung der restlichen noch von Gaddafi-treuen Truppen gehaltenen Ortschaften fort. Sie rückten gestern im ostlibyschen Ölhafen Ras Lanuf ein, während sich Gaddafis Kämpfer in Richtung seiner Hochburg Sirte zurückzogen. Der Krieg ist noch nicht vorbei. (mit afp)
Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Der Jahrestag der Ukraine-Invasion
Warum Russland verlieren wird
Sieger des rassistischen Wahlkampfes
Rechte Parolen wirken – für die AfD
Nach der Bundestagswahl
Jetzt kommt es auf den Kanzler an
Alles zur Bundestagswahl
Oma gegen rechts hat Opa gegen links noch nicht gratuliert
Wahlsieg der Union
Kann Merz auch Antifa?
Wahlerfolg der Linken
Keine Zeit, jetzt lang zu feiern