KUBAS KOMMUNISTEN WOLLEN DIE DIALEKTIK AUSSER KRAFT SETZEN: Die Ewigkeit bleibt unbestimmt
Zu den Paradoxien realsozialistischer Machtausübung gehörte immer schon der Versuch, das eigene Herrschaftssystem als ewig und unverrückbar zu deklarieren. Die Sehnsucht nach ewiger Dauer schlug sich in den realsozialistischen Verfassungen nieder, wo die führende Rolle der kommunistischen Partei, der sozialistische Charakter der Staatsmacht und viele andere schöne Dinge mit güldenen Lettern festgeschrieben wurden. Dieses Denken spricht der Dialektik Hohn, in der sich doch jeder Revolutionär üben sollte. Denn jede noch so fest gegründete Bestimmung bringt nun mal ihre eigene Negation hervor.
Das zeigt auch das Schicksal der kubanischen Verfassung von 1976. Schon 1992, nach der Auflösung der Sowjetunion, musste diese nolens volens modifiziert werden. Die UdSSR wurde ebenso herausredigiert wie das obligatorische Bekenntnis zum Marxismus-Leninismus. Es bedarf keiner großen Einsicht in gesellschaftliche Prozesse, um auch das Schicksal der momentan gültigen ehernen kubanischen Verfassung zu prognostizieren.
Die kubanische Parteiführung sieht das naturgemäß anders. Um ein Volksbegehren für die Einführung demokratischer Reformen zu konterkarieren, werden gegenwärtig „die Massen mobilisiert“, um die Verfassung durch ein Amendment zu ergänzen, in dem es heißt: „Das in der Verfassung niedergelegte ökonomische, politische und soziale System ist unberührbar“ (span. intocable). Dieses selbst für kubanische Verhältnisse redundante Vorgehen erhellt einmal mehr die theologische Substanz realsozialistischen Denkens. Wie Heiner Geißler es einmal formuliert hat: „Das Problem der Christen besteht darin, dass sie sich zu sehr für die vorletzten, das der Kommunisten, dass sie sich zu sehr für die letzten Dinge interessieren.“
Wer von der Unberührbarkeit eines Gesellschaftssystems spricht, rückt es in die sakrale Sphäre, wo die „letzten Dinge“ beheimatet sind. Auch in westlichen Verfassungen gibt es Veränderungsverbote – zum Beispiel im Artikel 76, Absatz 2 des Grundgesetzes, der die Menschenwürde und die bundesstaatliche Staatsorganisation jeder Abstimmung entzieht. Das ist eine Verbeugung vor dem Naturrecht, die allerdings im grundgesetzlich verankerten Widerstandsrecht eine praktische demokratische Konsequenz enthält.
Von dieser Art von „Unberührbarkeit“ ist das kubanische Verfassungs-Amendment weit entfernt. Es handelt sich nur um den untauglichen Versuch, den eigenen Herrschaftsanspruch zu heiligen. Noch immer gilt, dass Verfassungsfragen Machtfragen sind. Und über das, was vom Sozialismus nach Castros Tod in Kuba bleibt, wird kein Rekurs auf die Verfassung entscheiden. CHRISTIAN SEMLER
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