KOMMENTARE: Existentielle und moralische Starre
■ Die Katastrophen im Süden fordern Umkehr und neues Denken im Norden
Es ist gerade ein halbes Jahr her, da „retteten“ wir die Sowjetunion vor einer drohenden Hungerkatastophe. Mit Erfolg. Es ging um politische Stabilität auf der nördlichen Halbkugel, um ein Problem im Europäischen Haus. Die Aktion „Helft Rußland“ war gut plaziert: Zwischen Vorweihnachtszeit und Kriegsschuld, zwischen Wiedervereinigung und Gorbimanie. Dann zerschnitt der Golfkrieg die ungeteilte Solidarität. Es folgten die Rußnacht über Kuwait, Ölteppiche, die fliehenden Kurden. Die Hilfe war zunächst schleppend, doch waren einzelne Helfer, Staaten, internationale Organisationen motiviert: Es galt, eine Kriegsfolge abzumildern, ein seit ewigen Zeiten unterdrücktes Volk zu unterstützen, gegen die Menschenverachtung des Diktators in Bagdad ein Exempel der Humanität zu setzen, die im Golfkrieg beschworene „Moral der Völkergemeinschaft“ zu legitimieren. Politik, Eigeninteresse und Samaritertum standen in einem gewissermaßen vernünftigen Verhältnis zueinander.
Ganz anders die Flutkatastrophe in Bangladesch, die Aids-Epidemie in Afrika, die Cholera in den Anden, der Hunger in Somalia. Die visuellen Informationen sind nicht zu verarbeiten, einfache Schuldzuweisungen nicht parat. Die Apokalypse macht stumm und stumpf. Die subjektiven und institutionellen Reaktionen sind notgedrungen inadäquat. Man fragt sich, ob man überhaupt reagieren soll. Verdrängen ist die gemeinsame Devise.
Von Zeit zu Zeit übt sich die Erste Welt in Hilfe und Barmherzigkeit. Wann und wie das geschieht, unterliegt konjunkturellen Schwankungen, unterliegt den Gezeiten der Nachrichtenflut — der tatsächliche Umfang eines Unglücks ist dabei eher zweitrangig. Mehr noch: Die Lebensmitteltransporte, der Einsatz „unserer Jungs“ von der Bundesluftwaffe, die Eingänge auf dem Konto 414141 stehen in einem immer offenkundigeren Mißverhältnis zu der Politik, für die wir mitverantwortlich zeichnen, sie aber dennoch nicht verändern. Wir haben die Mittel, um in Bangladesch Deiche zu bauen, wir haben die Mittel zur Bekämpfung einer Choleraepedemie, wir wissen, wie die Klimakatastrophe zumindest abgemildert werden könnte. Aber wir wenden unser Wissen nicht an. Noch klammern wir uns an die Idee der glücklichen Insel. Halbherzig werfen wir moralischen Ballast ab, gewähren sporadisch Hilfe.
Im Angesicht von Bildern wie denen aus Bangladesch, wo ein ganze Stadt wie NÜrnberg oder Hannover vom Hurrican verschluckt wurde, wird aber die Unangemessenheit solcher Hilfsaktionen und -einsätze deutlich. Es entsteht — und das ist nicht schlecht — ein Zustand existentieller und moralischer Starre. Dieser nackten conditione humaine nicht auszuweichen, könnte ein Ansatzpunkt für jenes neue Denken sein, ohne das die Menschlichkeit nicht überleben kann. Götz Aly
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