KOMMENTARE: Wandel gestalten
■ Zur Situation der deutschen Stahlindustrie
Bergarbeiter fordern langfristige garantierte Absatzmengen für ihre Kohle, Stahlarbeiter verlangen Garantieerklärungen für ihre Standorte. Wer für solche Forderungen auf die Straße geht oder wie jetzt in Hennigsdorf ein Stahlwerk besetzt, gilt schnell als strukturkonservativ, als rückwärtsgewandt. Selbst in den Stäben der Gewerkschaftsbürokratie gerät solcherart Protest in den Verdacht der Innovationsfeindlichkeit.
Tatsächlich jedoch haben die westdeutschen Kohle- und Stahlgewerkschafter immer darum gekämpft, den Wandel zu gestalten, nicht zu verhindern. Und das gelang ihnen bedeutend besser als ihren KollegInnen in anderen Krisenbranchen, etwa der Textilindustrie. Zwei Faktoren waren dafür wesentlich. Zum einen der hohe Organisationsgrad, der den Gewerkschaftsakteuren schon bei den Gesprächen mit der Kapitalseite Macht verlieh. Die wußte immer ganz genau, daß im Zweifelsfall die Gegenseite zu Kampfmaßnahmen in der Lage sein würde.
Als zweite Säule des Erfolges erwies sich das Montanmitbestimmungsgesetz, das den Arbeitnehmervertretern schon bei den Investitionsentscheidungen wesentlich mehr Mitsprache gewährt als in allen anderen Branchen. Wer die nackten Zahlen betrachtet, sieht, daß beide Machtinstrumente in der Vergangenheit eben nicht zur Blockade eingesetzt wurden. Im westdeutschen Steinkohlebergbau wurde die Beschäftigtenzahl von über 600.000 in den 50er Jahren auf heute noch knapp 130.000 zurückgefahren. Von den ehemals über 400.000 Beschäftigten in der Stahlindustrie sind keine 120.000 mehr übriggeblieben — ein Schrumpfungsprozeß, der trotz seiner gigantischen Ausmaße keine verelendeten, verslumten Regionen zurückließ. Gestaltung des Wandels statt Verteidigung des Alten, lautete das Motto.
Auch wenn jetzt über Krupp und Hoesch zwischen Gewerkschaftern heftig gestritten wird, im Prinzip halten alle Beteiligten einen anderen Weg für nicht gangbar. Die Forderung nach Vergesellschaftung der Stahlindustrie, von den linken Aktivisten trotz eigener Zweifel immer wieder hochgehalten, war ohnehin nie mehr als eine radikale Pose. Stahl, den man nicht verkaufen kann, lohnt es nicht zu produzieren — auch nicht in vergesellschaftlichten Betrieben.
Das wissen die Stahlkocher in den fünf neuen Ländern nur zu gut. Grundsätzlich lehnen sie deshalb die Privatisierung auch nicht ab. Auch ihnen geht es darum, den Wandel zu gestalten, radikale Brüche und damit die Verwüstung von ganzen Regionen zu vermeiden. Geschenkt bekommt man entsprechende Zusagen von Politik und Kapital indes nicht. Darum muß man kämpfen. Je mutiger, je geschlossener, je konsequenter, je klüger man das macht, um so größer die Erfolgsaussichten. Werksbesetzungen wie in Hennigsdorf weisen in die richtige Richtung. Walter Jakobs
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