KIRCHENTAGE SIND NICHT NUR FÜR CHRISTEN WICHTIG: Mehr als ein Kaffeekränzchen
Über kaum eine Veranstaltung wird so viel gelächelt wie über Kirchentage. Gutmenschen in Wollsocken latschen in Gesundheitssandalen über das Messegelände, Posaunenchöre trompeten gegen den Wind. Auf den Kirchen- und Katholikentagen treffen sich Menschen, die das Primat der Ökonomie nicht anerkennen, sondern im Leben eine ethische und spirituelle Bedeutung suchen. Das mag man komisch finden. Aber es ist allemal angenehmer als der Tanz um das Goldene Kalb, der sonst in der Börsenstadt Frankfurt stattfindet.
Kirchentage sind mehr als Kaffeekränzchen für Betschwestern. Die Christentreffen haben Brandts Ostpolitik vorbereitet, die Emanzipation der Frau nach vorn gebracht, die Nachrüstung heiß debattiert und die ökologischen Fragen im Bewusstsein der Menschen verankert. Es ist kein Zufall, dass die Debatte um die Gentechnik nun auf einem Kirchentag geführt wird. Theologisch bewirken die Kirchentage viel: Auch wenn das gemeinsame Abendmahl noch an katholischen Widerständen scheitert, wird der massenhafte Ungehorsam beim ökumenischen Kirchentag in Berlin in zwei Jahren die Christen zusammenwachsen lassen. Auf diesen Treffen hat sich die christliche Basis immer wieder den Mut geholt, im Alltag gegen ihre Oberhirten aufzumucken.
Auf Parteitagen und Großdemonstrationen der Gewerkschaften werden wichtige Fragen kaum noch diskutiert. Da sind die Kirchentage lebendiger. Sie haben, was den meisten Kongressen fehlt: Offenheit und eine Orientierung an ethischen Grundüberzeugungen. In einer Zeit, wo politische und gesellschaftliche Weichenstellungen in Talkshows oder Ethikräten vorbereitet werden und selbst der Bundestag unter der Konsenssoße der Regierung begraben wird, bieten die Kirchentage die Chance, Menschen und Argumenten direkt zu begegnen. Am wichtigsten aber ist die Orientierungshilfe, die Kirchentage bei ethisch-moralischen Fragen liefern. Fachtagungen zur Gentechnik gibt es reichlich. Aber ein Kirchentag liefert vielleicht eine Antwort auf die entscheidende Frage: Ist das nun gut oder schlecht? BERNHARD PÖTTER
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