Jutta Ditfurth über Ulrike Meinhof: Suggestive Metaphern
Ulrike Meinhof war eine selbstbewusste, politisch denkende Frau und kein emotional unsicherer Mensch. Ihre Biografie wurde systematisch verfälscht.
"Hätte Ulrike Meinhof mehr mit mir getanzt, hätte sie nie zu Bomben gegriffen", sagte Günter Grass kürzlich. Wer sich mit Ulrike Meinhof befasst, stößt auf ein Gestrüpp von Legenden: Sie stamme aus einer antifaschistischen Familie, sei von einer fortschrittlichen Pflegemutter erzogen worden, beruflich erfolgreich gewesen und habe, bloß weil ihr Ehemann sie betrog, zu Sprengstoff gegriffen.
Verwirrt und planlos sei sie bei der Befreiung von Andreas Baader (Mai 1970) aus dem Fenster in den Untergrund gesprungen. Die Metapher ist zu suggestiv, um sie den Fakten zu opfern. Bedrängt und verführt zog sie dann in den bewaffneten Kampf, um am Ende nicht den inhumanen Haftbedingungen (vielleicht), sondern dem Streit mit Gudrun Ensslin zum Opfer zu fallen.
Grundlage des Mythos sind vier vergiftete Quellen. Erstens Meinhofs Pflegemutter Renate Riemeck (1920 bis 2003). Die Historikerin war NSDAP-Mitglied und machte Karriere an der "SS-Universität" Jena. Sie leugnete ihre Nazi-Vergangenheit bis zu ihrem Tod und behauptete, Juden gerettet zu haben. Auch Alice Schwarzer glaubte ihr alles.
Zweitens Klaus Rainer Röhl (geboren 1928), sechs Jahre Meinhofs Ehemann. Röhl war in den 1950ern "nationaler Kommunist", promovierte 1993 beim rechtskonservativen Historiker Ernst Nolte ("Historikerstreit"), schloss sich dann der "Stahlhelm-Fraktion" der FDP an. Als Ulrike Meinhof auf der Flucht war (1970 bis 1972) schlug Röhl dem BKA vor, seiner Exfrau eine Falle zu stellen. Sobald sie in Isolationshaft saß, verkaufte Röhl ihre Texte und schrieb einen obszönen "Enthüllungsroman".
Drittens Stefan Aust, der ehemalige Chefredakteur des Spiegel (geboren 1946). Als 20-jähriger Layouter von konkret bewunderte er die 12 Jahre ältere prominente Kolumnistin Meinhof. Er verließ konkret, als Meinhof mit der Zeitschrift brach. Austs Buch "Der Baader Meinhof Komplex" (1985 ff.) wurde Grundlage des gleichnamigen Films (2008). Ständiger Zeitzeuge Austs ist heute sein alter konkret-Chef Röhl, den Aust, wie er stolz erzählte, seit der Arbeit am Film duzt.
Die vierte giftige Quelle ist das Bundeskriminalamt (BKA). Die interessengeleiteten Legenden von Riemeck und Röhl über Biografie und Persönlichkeit Meinhofs flossen in das Zerrbild, das Staat und Justiz von ihr schufen und die Medien verbreiteten. Aust wiederum bediente sich auch der BKA-Akten. So wird herrschende Meinung konstruiert und verfestigt.
Während meiner sechsjährigen Arbeit an Ulrike Meinhofs Biografie fand ich keine Spuren anderer Autoren in Dutzenden von Archiven. Dennoch glorifizierten sie zum Beispiel die Meinhofsche Großfamilie als einen Hort christlichen Widerstandes. Dabei waren die Meinhofs Antisemiten, Vorkämpfer der NS-Bewegung, Bewunderer Hitlers und verurteilte Kriegsverbrecher. Aber der Weg zum Beispiel ins Berlin Document Center war Alois Prinz und Stefan Aust wohl zu weit.
Ulrike Meinhof wurde am 7. Oktober 1934 in Oldenburg geboren. Ihr Vater, der völkische Kunsthistoriker Dr. Werner Meinhof, NSDAP-Mitglied, beteiligt an der Kampagne "Entartete Kunst", errichtete seine Karriere auf der Vertreibung moderner KünstlerInnen. Seine NS-Akten waren unberührt wie frisch gefallener Schnee. Dass er verfolgten Künstlern geholfen habe, ist frei erfunden.
Ulrike Meinhof, die angeblich bis ins Studium betende brave Christin mit Sophie-Scholl-Frisur und Geige, war tatsächlich eine Art Beatnik, trug Hosen, rauchte auf der Straße, las existentialistische Philosophen und liebte moderne Kunst. Auch von autoritären alten Nazilehrern verlangte sie Respekt und flog beinahe von der Schule. Ulrike las, tanzte, spielte Schlagzeug in einer Jazz-Combo und fühlte sich politisch dem linken Flügel der SPD nahe. Sie liebte den jungen Künstler Thomas Lenk und dann die gleichaltrige Maria. Renate Riemeck untersagte beide Beziehungen und drohte der mittellosen Vollwaise, sie auf die Straße zu werfen (Weilburg 1952 bis 1955).
Mitten im Kalten Krieg wurde die Studentin - inspiriert von Marx, vom Kampf gegen die Wiederbewaffnung und vom KPD-Verbot - im Widerstand gegen Atomwaffen politisch aktiv (Marburg 1955). Sie gründete die erste Anti-Atom-Gruppe und organisierte eine Kundgebung (Münster 1958).
Dabei kam die 24-Jährige der SPD in die Quere. Die Partei war auf dem Weg nach Godesberg, um endlich regierungsfähig zu werden und dafür Kapitalismus und Nato zuzustimmen. Bis in die "Baracke" in Bonn (SPD-Bundesgeschäftsstelle) reichten die Intrigen gegen die junge Frau. Enttäuscht von der SPD und beeindruckt von den Lebensgeschichten deutscher Kommunisten, die KZs überlebt hatten und nun erneut verfolgt wurden, trat Ulrike Meinhof im Herbst 1958 in die illegale KPD ein.
Als Ulrike Meinhof und ihre Freunde den Studentischen Anti-Atom-Kongress in Westberlin aus der Bevormundung der SPD-Führung um Helmut Schmidt befreiten und die Forderung durchsetzten, Gespräche mit der DDR zu führen, ging eine Pressekampagne los, die der Springerhetze gegen die APO von 1967/68 in nichts nachstand (Januar 1959). Die SPD jagte Ulrike Meinhof aus dem SDS (im Mai 1959 noch Studentenverband der SPD).
Die KPD überzeugte sie 1959, Redakteurin von konkret in Hamburg zu werden. 1961 wurde Meinhof Chefredakteurin. Sie schrieb ab 1961 über die Notwendigkeit einer "neuen Linken". 1964 brach sie mit der gegenüber konkret dogmatisch gewordenen KPD.
Als sich Ulrike Meinhof 1967 der APO anschloss, mit Rudi Dutschke anfreundete und nach Westberlin zog, war sie 33 Jahre alt, eine prominente politische Publizistin, Dozentin, alleinerziehende Mutter von sechsjährigen Zwillingen. Sie war seit Anfang der 1960er bekannt für ihre großartigen Reportagen über NS-Prozesse, Heimkinder, Industriearbeiterinnen und "Gastarbeiter". Sie war 1964 "die erste Person in der Bundesrepublik, die aufrichtig und ernsthaft wünschte, über meine Erlebnisse im Warschauer Ghetto informiert zu werden", schreibt Marcel Reich-Ranicki in seiner Autobiografie.
Die Lage in Westberlin war so bedrohlich, dass Ulrike Meinhof die DDR um Bauhelme zum Schutz der Köpfe der Westberliner Linken bat. Eine von Angehörigen früherer SS-Divisionen durchtränkte Westberliner Polizei ging, unter dem Beifall eines Teils der Westberliner Öffentlichkeit und angefeuert von den Springermedien, brutal gegen die neue Linke vor. In Portugal, Spanien und Griechenland herrschten faschistische Diktaturen.
Meinhof verlor durch Röhl ihren Einfluss auf konkret. Ihre Arbeit als Journalistik-Dozentin an der FU wurde von der CDU attackiert. Ihr Fernsehspiel "Bambule" wurde ihr aus der Hand genommen. Ihr Freund Rudi Dutschke wurde Opfer eines Attentats. Die APO zerbrach, beschleunigt durch den Überfall der Warschauer Paktstaaten auf den Prager Frühling, mit dem Ulrike Meinhof sympathisierte. Der Krieg in Vietnam wütete immer noch (1968/69).
Ulrike Meinhof sah sich in einer Sackgasse, sie diskutierte mit Freunden über den bewaffneten Kampf. Die BRD schien ihr in einem vorrevolutionären Zustand, den eine militante "Avantgarde", die RAF, zuzuspitzen hatte. Anfang 1970 beschaffte sie Geld für Waffen. Sie brachte ihre Kinder unter und steckte ihr gesamtes Vermögen, einen Pfandbrief über 40.000 Mark, in ihre Handtasche, als sie sich aufmachte, um Andreas Baader zu befreien. Das Trio Bernd Eichinger (Produzent und Drehbuch), Uli Edel (Regisseur) und Stefan Aust (Storylieferant) schuf den miserablen, antiaufklärerischen Film "Der Baader Meinhof Komplex". Sie prahlen mit historischer Genauigkeit und behaupten, sie könnten jeden Einschusswinkel belegen. Aber alle Szenen über Ulrike Meinhof sind unwahr.
Zeitgenossen erinnern sich an Meinhof, die selbstbewusst, mit Argumenten und Charme, auf Empfängen oder am Strand gegen den Vietnamkrieg und die Nato agitierte. - Im Film sagt Röhl auf einer Party: "Alle mal herhören! Meine Starkolumnistin und kluges Eheweib, hat einen offenen Brief …" - Martina Gedeck alias Ulrike Meinhof, seltsam verkrümmt, streicht sich verlegen eine Strähne aus dem Gesicht - "… an ihre kaiserliche Hoheit Farah Diba geschrieben …". Ulrike/Martina, verdruckst und zugleich geschmeichelt, flüstert: "Mach doch nicht wieder so ne Show draus." Röhl lockt: "Komm schon, pretty Baby!" Zu den Gästen lauter: "Das wird in der nächsten Ausgabe der konkret erscheinen." Dann beginnt Ulrike/Martina allen Ernstes, ihren eigenen, in Wirklichkeit längst veröffentlichten Artikel vorzulesen, pathetisch und unsicher.
Die hochpolitische, selbstbewusste und intelligente Frau mutiert im Film zur emotional instabilen bürgerlichen Ehefrau mit ewig zitternder Unterlippe. In demütiger Körperhaltung lässt sie sich vom Gatten auf Partys vorführen wie ein Tanzbär. Ulrike Meinhof soll Baader und Ensslin vom ersten Moment an emotional unterlegen sein, damit Eichinger-Edel-Aust-Röhl sie zum Opfer der RAF machen können.
Am 7. Oktober 2009 wäre Ulrike Meinhof 75 Jahre alt geworden. Wäre es nicht an der Zeit, sich mit dem Menschen politisch auseinanderzusetzen, der sie wirklich war?
Jutta Ditfurth: Ulrike Meinhof. Die Biografie (Ullstein, Taschenbuch 9,95 Euro)
Am 6. 10. (Berlin, Berliner Ensemble) und am 7. 10. (Stuttgart, Theaterhaus) findet zum 75. Geburtstag eine "Szenische Lesung - Ermittlungen über Ulrike Meinhof (mit Bildern und Fundsachen)" mit der Autorin Jutta Ditfurth statt.
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