Justiz in der Türkei: Drakonische Strafen
Das Hauptverfahren gegen angebliche oder tatsächliche Putschisten endet für viele der Angeklagten mit hohen Gefängnisstrafen.
337 Angeklagte müssen in eine verschärfte lebenslange Haft, die jede Entlassung ausschließt. Gegen 60 weitere Angeklagte wurden teilweise hohe Haftstrafen verhängt, 75 Angeklagte wurden freigesprochen. Der Prozess in Ankara galt als Hauptverfahren der knapp 300 Prozesse, die im Anschluss an den Putschversuch durchgeführt wurden. Fast alle Verfahren sind mittlerweile abgeschlossen.
Der Putschversuch, der am Abend des 15. Juli in Ankara und Istanbul begann, gilt als der schwerste Angriff auf den heutigen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan und seine Anhänger. Erdogan macht die islamistische Sekte des Predigers Fetullah Gülen für den Putschversuch verantwortlich, die großen Einfluss im Militär und Sicherheitsapparat hatte und mit der er nach zunächst jahrelanger Zusammenarbeit im erbitterten Streit lag. Mehr als 250 Menschen, überwiegend Zivilisten, wurden bei dem Putschversuch getötet, mehr als 2000 verwundet.
In dem jetzt beendeten Hauptverfahren ging es vor allem um Militärs des bei Ankara liegenden Luftwaffenstützpunktes Akinci, der während des Putsches das Hauptquartier der putschenden Soldaten war. Unter den Verurteilten sind 25 Generäle und etliche Piloten, die damals die Bombenangriffe auf das Parlament, die Polizei und die Geheimdienstzentrale geflogen haben sollen. Auf dem Luftwaffenstützpunkt wurde auch der damalige Generalstabschef und heutige Verteidigungsminister Hulusi Akar festgehalten, nachdem er eine Zusammenarbeit mit den Putschisten verweigerte.
Auf freiem Fuß
Die aus Sicht Erdogans wichtigsten „Verräter“ sind allerdings immer noch auf freiem Fuß. Sektenchef Fetullah Gülen lebt schon seit Ende der 90er Jahre in den USA und bestreitet jede Verbindung zu dem Putsch. Die US-Regierungen verweigerten eine Auslieferung Gülens.
Dessen damaliger Vize in der Türkei, der den Putsch orchestriert haben soll, heißt Adin Öksöz und konnte sich einem Zugriff ebenfalls entziehen. Er soll sich nach Deutschland abgesetzt haben und bis heute mit Hilfe anderer Mitglieder der Gülen-Sekte dort untergetaucht sein. Auch Deutschland will von einer Auslieferung nichts wissen und hat angeblich über den Aufenthalt von Öksöz keinerlei Kenntnis.
Der Putschversuch hatte vor vier Jahren zu einer dramatischen Zuspitzung der innenpolitischen Auseinandersetzung geführt. Die Erdogan-Regierung verhängte einen Ausnahmezustand und verfolgte anschließend die gesamte Opposition, auch Sozialdemokraten, Linke, Linksliberale und politisch aktive Kurden, die alle nie etwas mit der Gülen-Bewegung zu tun hatten, beziehungsweise sogar als erklärte Gegner der Sekte galten.
Über 150.000 Leute wurden aus dem öffentlichen Dienst entlassen, vorwiegend Akademiker und Lehrer, die als Kritiker der AKP-Regierung bekannt waren. Diese Säuberungen und die massive Repression gegen jede Opposition halten bis heute an.
Systematische Behinderung
Weil die Erdogan-Regierung nach dem Putschversuch eine unabhängige Untersuchung der Vorgänge in den Tagen vor dem Putsch und in der Putschnacht selbst systematisch verhinderte, gehen viele Beobachter bis heute davon aus, dass die offizielle Version nicht den Tatsachen entspricht.
Zwar ist in der Türkei auch die Opposition davon überzeugt, dass die Gülen-Sekte die Initiatoren des Putsches war. Doch bezweifeln viele, dass die Erdogan-Regierung davon wirklich so überrascht wurde, wie sie behauptet.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Machtkämpfe in Seoul
Südkoreas Präsident ruft Kriegsrecht aus
Nikotinbeutel Snus
Wie ein Pflaster – aber mit Style
Israel, Nan Goldin und die Linke
Politische Spiritualität?
Ineffizienter Sozialstaat
Geteilte Zuständigkeiten
Gesetzentwurf aus dem Justizministerium
Fußfessel für prügelnde Männer
Europarat beschließt neuen Schutzstatus
Harte Zeiten für den Wolf