: Just smile
AUFSCHWUNG Nach etlichen Rückschlägen steht Sabine Lisicki bei ihrem Lieblingsturnier in Wimbledon erstmals im Finale. Zu Großem berufen fühlt sich die Berlinerin schon länger
■ Die Gegnerin: Marion Bartoli, 28, steht zum zweiten Mal nach 2007 im Finale von Wimbledon (Sky, 15 Uhr). Die Französin ist auf Platz 15 der Branchenwertung neun Ränge höher eingestuft als Lisicki. Viermal standen sich die beiden Finalistinnen schon gegenüber, erst einmal gewann Bartoli. 2008 in der ersten Runde von Wimbledon, bei Lisickis Debüt. Bartoli stand 2007 schon einmal im Endspiel der Offenen Englischen Meisterschaften. Sie verlor gegen Venus Williams (USA).
■ Die Historie: Lisicki ist erst die vierte Deutsche in einem Endspiel von Wimbledon. Den Anfang machte 1931 Cilly Aussem, die in einem deutschen Finale Hilde Krahwinkel 6:2, 7:5 bezwang. Ende der 80er Jahre startete Steffi Graf ihre Siegesserie an der Church Road. Zwischen 1987 und 1999 stand Graf neunmal im Finale. Sie gewann siebenmal.
■ Die TV-Übertragung: Zu sehen ist das Finale nur im Pay-TV. Die ARD konnte sich in ihrem Bemühen um eine Liveübertragung nicht mit dem Rechteinhaber Sky einigen. Die ARD soll zwei Angebote abgegeben haben. Sky hielt die Offerten für „nicht ausreichend“. Lisickis Halbfinalsieg verfolgten 230.000 Zuschauer auf Sky.
AUS LONDON JÖRG ALLMEROTH
Als Sabine Lisicki am letzten Montag das Achtelfinaldrama gegen die große Serena Williams gewonnen hatte, entspann sich auf der Terrasse des Spielerzentrums von Wimbledon ein denkwürdiger Dialog. Zwischen Lisicki, der „lächelnden Attentäterin“ (The Guardian), und Barbara Rittner, der deutschen Bundestrainerin. Aufgepumpt mit Selbstbewusstsein nach dem Williams-Coup, sagte Lisicki zu Rittner: „Der Centre Court ist jetzt wirklich mein Wohnzimmer, mein Zuhause.“ Rittner schaute Lisicki danach mit einem milden Lächeln an, das gewisse Zweifel an dieser forschen Einlassung verriet. Woraufhin Lisicki zurücklächelte und sagte: „Na ja, ich würde mir das Wohnzimmer auch mit Roger Federer, Novak Djokovic oder Andy Murray teilen.“ Rumms, das saß.
Und zwar genauso wie die krachenden Asse und wuchtigen Siegtreffer, die Lisicki nun schon seit zwei Wochen pausenlos auf den heiligen Rasen zaubert. Zwei Jahre nach ihrem wundersamen Durchmarsch bei den Offenen Englischen Meisterschaften, dem energischen Einzug ins Halbfinale als Wild-Card-Starterin, ist sie nun wieder das große Gesprächsthema in Wimbledon und in Deutschland – die stärkste Story eines komplett verrückten Turniers mit pausenlosen Überraschungseffekten. Dort, wo große Tenniskarrieren beginnen und ihre unzweifelhaften Höhepunkte erreichen, kann die von den englischen Medien „Bum Bum Bine“ Genannte an diesem Samstag in ihrem ersten Grand-Slam-Finale tatsächlich zum großen Schlag ins Glück ausholen.
Nur noch einen Sieg ist die 23-jährige Berlinerin von der Unsterblichkeit entfernt, dann, wenn sie gegen Frankreichs kapriziöse Marion Bartoli auf den geliebten Centre Court marschiert. „Ich lebe hier meinen Traum. Den Traum, den ich schon als Kind hatte. Den Traum, Wimbledon zu gewinnen“, sagt Lisicki. Angst und Zweifel vor der letzten großen Herausforderung kennt sie nicht, diese unerschrockene Fighterin, die hier für die spektakulären Momente zuständig war, wie etwa beim Sensationserfolg gegen die haushohe Favoritin Williams. „Sie ist in all dem Trubel so ruhig wie das Auge im Zentrum des Hurrikans“, sagt Trainer-Vater Dr. Richard Lisicki.
Wimbledon und die Deutschen – das ist ja seit den Zeiten des „17-jährigen Leimeners“, des immer noch jüngsten Turnierchampions Boris Becker, und seiner ewigen Weggefährtin Steffi Graf eine ganz besondere Beziehung. Wimbledon ist auch und besonders in der Heimat der alten Großchampions ein magisches Markenzeichen im Sport, ein ikonenhafter Wettbewerb, ein Turnier, das ganz außergewöhnliche Emotionalität und Bedeutung entfaltet. Selbst wer sich nicht für Tennis interessiert, kennt Wimbledon. Und das erklärt vielleicht auch die Begeisterungswelle, die nun wieder über die Republik hereingebrochen ist. Und die sentimentalen Gefühle, die sich ausbreiten mit Lisickis Siegesserie. „Es ist wie eine Zeitreise zurück in die große deutsche Ära“, sagt Becker, in diesen Tagen als BBC-Kommentator in Wimbledon beschäftigt, „und es gibt sicher auch Stolz auf diese charmante junge Dame, die Deutschland hier so toll vertritt.“
Die Krönung einer Achterbahnkarriere
Lisickis Chance aufs ganz große Tennisglück steht am vorläufigen Ende einer turbulenten Karriere, die wie so viele ihrer Spiele auf dem Centre Court eine einzige Achterbahnfahrt ist. Begonnen hat das Abenteuer vor knapp 15 Jahren in einer kleinen Tennisschule in Reichsdorf-Eckenhagen, 60 Kilometer von Köln entfernt. Vater Lisicki, ein promovierter Sportwissenschaftler, der eigentlich wegen der besseren Karrierechancen nach Deutschland gekommen war, widmet sich voll und ganz dem Training der Tochter. Aber das Geld ist knapp im Hause Lisicki. Kreuz und quer gondeln die Lisickis, Vater Richard, Mutter Elisabeth und Tochter Sabine, mit ihrem Wagen durch Europa, zu immer neuen Jugendturnieren. „Ich weiß noch genau, dass wir dieses Auto mit Kilometerstand 268.000 verkauft haben“, sagt Sabine Lisicki. „Diese Zeit hat uns auch richtig zusammengeschweißt. Es gab große Entbehrungen, aber das hat den Hunger auf Siege nur größer gemacht.“
Der Durchbruch kommt dann, als Vater Lisicki den Kontakt zu dem Vermarktungsgiganten IMG findet, dem größten Player der Szene. Die IMG-Leute suchen ständig das nächste neue Gesicht, den Superstar von morgen, die Champions der Zukunft. Sabine besucht daraufhin die Akademie von Nick Bollettieri in Florida, dem schillerndsten aller Trainer, bei dem Tennisgiganten wie Andre Agassi, Jim Courier, Monica Seles oder Maria Scharapowa ihre Lektionen erhielten. Bollettieri spürt rasch, dass er hier ein Talent unter seinen Fittichen hat, das „Starpotenzial“ mitbringt, „eine Spielerin mit dem gewissen Extra, die sich sofort von der Masse abhebt“. Er sagt: „Sie hat die Gene eines Champions. Sie kann einmal die Nummer 1 werden.“
Es ist eine Attitüde, die abfärbt auf Lisicki, dieses amerikanische Prinzip „Think big“, die Haltung, bloß nicht kleinmütig und verzagt zu sein, dieses Selbstbewusstsein, das die junge Deutsche später auch auf den Centre Courts im Wanderzirkus der Profis spazieren trägt. Und dieses strahlende Lächeln, das fast nie aus ihrem Gesicht weicht und das Bollettieri ihr beigebracht hat: „Wenn du lächelst, bist du stark. Und denkst nicht ans Scheitern.“ Ihr Spiel wirkt wie ein Ausdruck dieses Lebensgefühls: zupackend, schnell, kraftvoll, dynamisch, forsch. Mit 19 wird Lisicki in Wimbledon bereits als „Erbin von Steffi Graf“ gefeiert, da hat sie 2009 erstmals das Viertelfinale erreicht. Graf und Lisicki finden das nicht so sonderlich originell: „Lasst Sabine doch Sabine sein“, bittet Graf.
Lisickis erlebt auch schwere Rückschläge, kleinere und größere Verletzungsprobleme tretenn auf, sie wird bei den US Open in New York nach einer Knöchelverletzung mit einem Rollstuhl vom Platz gefahren, und in Paris während der French Open erleidet sie einen körperlichen Zusammenbruch – angeblich wegen einer Glutenallergie. Doch in Wimbledon, beim Turnier der Turniere, geht es ihr immer gut. Sie erzählt: „Ich habe schon damals die besondere Atmosphäre gespürt, dieses ganz eigene Flair.“
Das unbestimmte Gefühl für die großen Chance
Lisicki-Tennis ist wie früher Becker-Tennis, eine große Show, ein Nervenspiel, ein permanentes Drama. Und genau deshalb so erregend, mitreißend und faszinierend. Sie verliert manchmal Spiele, die sie schon klar gewonnen zu haben schien. Aber noch lieber und auch häufiger gewinnt sie Spiele, bei denen schon alles verloren schien – so wie in Wimbledon gegen Serena Williams oder Agnieszka Radwanska. „Sie nimmt einen schon auf eine strapaziöse Reise mit“, sagt Rittner, die Bundestrainerin, „aber es ist eben auch großer Spaß, es ist Tennis, das man lieben muss.“ Martina Navratilova, die neunmalige Wimbledon-Siegerin, findet das auch: „Eines ist sicher: Kalt lässt Sabine keinen.“
Schon gar nicht im All England Club. Dort ist die Deutsche, die sagt, „Wimbledon macht einen anderen Menschen aus mir“, längst der große Darling des Turniers. „Keine Spielerin liebt Wimbledon seit Boris Becker so wie Sabine“, sagt Neil Harman, der Tennisexperte von der Times, „und deshalb lieben die Fans sie auch, diese lächelnde Siegerin.“ Schon vor dem Turnier hatte Lisicki so ein unbestimmt gutes Gefühl, „dass hier etwas Tolles möglich ist für mich.“ Sie spielte dann tatsächlich das beste Tennis ihres Lebens und steht nun vor der Krönung ihres turbulenten Lebenswegs. „Ich habe nie den Glauben an mich verloren, nicht in all den Jahren seit der Kindheit“, sagt Lisicki, „und auch nicht in diesem Turnier.“