: Juristische Strategiespiele
■ Die Richter des Bundesgerichtshofes müssen sich nicht in die Paragraph-218-Diskussion einmischen/ Besser wäre es sowieso, wenn sie sich zu diesem Zeitpunkt raushielten/ Die strittige Sachfragen sollen im November erörtert werden
Die Revisionsverhandlung im Fall Horst Theissen, die heute beginnt, ist sicher nur eine Etappe auf einem langen Weg. Die BGH-Richter in Karlsruhe können sich zwar auf die strittigen Sachfragen einlassen, die den Angeklagten, das Publikum und diejenigen bewegen, die dabei sind, in Bonn einen Kompromiß für ein neues Abtreibungsgesetz auszuhandeln: nämlich die Zulässigkeit bzw. die Grenzen einer inquirierenden Überprüfung höchstpersönlicher und intimer Verhältnisse in einem Strafverfahren wegen §218. Aber die BGH- Richter müssen das nicht, sie können das Urteil gegen Theissen aus rein formellen Gründen aufheben und die Sache an ein bayerisches Landgericht zurückweisen. Das muß dann zu einem späteren Zeitpunkt nach dem dann geltenden Recht entscheiden. Die Verteidigung Theissens hat vier sehr unterschiedliche Problembereiche gerügt:
1.) Zu den prozessualen, also formellen Fragen gehört die Besetzung des Gerichts. War das Karussell der „Entscheidungen in eigener Sache“ (so die Verteidigung), in dem jeweils zwei Richter den Antrag der Verteidigung wegen Befangenheit gegen einen dritten Richter ablehnten, zulässig?
2.) Weiter gehört zu den eher formellen Fragen die Verjährung des Verstoßes gegen die strafbewehrte Beratungspflicht (§218b StGB). Denn das Memminger Landgericht hat in seinem Übereifer einen Rechtsfehler gemacht. Es hat übersehen, daß in einigen der Fällen, in denen Theissen verurteilt wurde, die Taten bereits verjährt waren.
3.) Zu den äußerst strittigen Sachfragen hingegen gehören die verfassungs- und strafprozessualen Probleme im Zusammenhang mit der Beschlagnahme der Patientinnenkarteikarten. Die Verteidigung rügt hier einen schwerwiegenden Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.
4.) Erst danach wird es auf das materielle Strafrecht ankommen, also der Auslegung der Paragraphen 218 und 218a des StGB. Laut §218a ist eine Notlage „nach ärztlicher Erkenntnis“ festzustellen. Zur Frage, was das bedeutet, hat interessanterweise bereits 1985 der BGH in einer Zivilsache (Arzthaftung) entschieden. Die liberaleren Zivilrechtler kamen zur Auffassung, daß der Arzt/ die Ärztin einen Beurteilungsspielraum hat, Gerichte also nicht die ärztliche Entscheidung überprüfen dürfen. Es stellt sich daher jetzt in Karlsruhe erneut die Frage nach den Grenzen der gerichtlichen Überprüfbarkeit einer Notlagenindikation.
Theoretisch können die Karlsruher Richter das Urteil gegen Horst Theissen aus genannten zwei formellen Gründen aufheben. Sie müssen sich nicht in den Streit um den §218 einmischen. Die rechtspolitische Wirkung einer solchen richterlichen Zurückhaltung wäre hilfreich. Sie würde allen am Gesetzgebungsprozeß Beteiligten klarmachen, daß jedes Kompromißgesetz seine Feuerprobe vor einem bayerischen Gericht bestehen muß. Die Gefahr, daß das Bundesverfassungsgericht ein liberales Gesetz erneut kippen wird, erscheint nach über 15 Jahren Reformdiskussion vergleichsweise gering zu sein. Ziemlich sicher wird aber ein bayerisches Gericht Auslegungsspielräume im Interesse des sogenannten Lebensschutzes ausfüllen.
BGH sollte sich aus der Debatte raushalten
Aber niemand kann die BGH-Richter daran hindern, indirekt doch auf die rechtspolitische Diskussion Einfluß zu nehmen und sich zum §218 inhaltlich zu äußern. Aus der Sicht der Verteidigung ist dieser zweite Weg riskant, weil zur Zeit selbst innerhalb der CDU die rechtspolitische Diskussion weiter ist, als eine moderate (die bayerische Lesart vorsichtig korrigierende) Auslegung des geltenden Rechts. Es wäre also das beste, wenn sich der BGH aus der Abtreibungsdebatte heraushalten würde. Wenn er das nicht tut, welches sind dann die erwartbaren Ergebnisse? Beginnen wir mit der liberalen Variante: Sollte sich der zuständige Strafsenat die Rechtsansicht des 6. Zivilsenat des BGH von 1985 zueigen machen, dann würde er das Urteil aufheben mit dem Hinweis, daß das noch zu bestimmende Landgericht den Beurteilungsspielraum des abbrechenden Arztes zu beachten habe. Mit dieser Auslegung würde es der BGH schwer machen, in einer Wiederholung des Prozesses die Lebensverhältnisse der Zeuginnen so detailliert zu durchleuchten, wie geschehen. Aber die Macht der Revisionsrichter reicht nicht soweit, eine Neuauflage des Memminger Verfahren definitiv zu verhindern. Der BGH würde lediglich die mühsam verdeckten Kontroversen innerhalb der CDU/CSU entfachen und neue juristische Strategien ermuntern.
Nicht minder paradox wäre die Situation, wenn die BGH-Richter Leitlinien für eine strafgerichtliche Überprüfung von Notlagenindikationen in Erwägung ziehen sollten, die in die Richtung der Auffassung des Bayerischen Obersten Landesgerichts weisen. Dann würden sie nämlich für alle am Gesetzgebungsverfahren Beteiligte deutlich machen, daß die Erwartung der CDU, es könne ein Indikationsmodell geben, das zwar Abtreibung als „Unrecht“ kennzeichnet, aber skandalöse Strafverfahren vermeidet, trügerisch ist. Das zwar ungewollte, aber dennoch unüberhörbare rechtspolitische Signal ginge in die entgegengesetzte Richtung einer Fristenlösung. Pragmatisch spricht also viel für eine richterliche Beschränkung auf die gerügten formellen Verstöße. Aber wer wagt schon bei diesem Thema eine Prognose? Monika Frommel
Die Autorin ist Professorin für Strafrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Frankfurt
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