Junges Theater in Jena: Spiel gegen die Selbstausbeutung
In Thüringen steht es schlecht um das Theater. Eigentlich. Denn in Jena überrascht das Theaterhaus mit einem hoch motivierten Team - trotz geringem Gehalt.
Alles schrumpft. Alles verkleinert sich. Das Meer, dieses Versprechen des Unendlichen, ist in dem Theatertext "Die Unmöglichkeit einer Insel - Gran Canaria" von Charlotte Roos schon zum Pool einer Hotelanlage verkommen. In der Uraufführung, die Ende März im Theaterhaus Jena stattfand, ist das Meer sogar nur noch ein blaues Planschbecken, umstellt von Liegen im Puppenstubenformat. Und so kleingehalten wird auch die Wahrnehmung eines Urlaubers in der Hotelanlage, dem nirgendwo die Erfahrung von Fremdheit zugestanden wird und der nun in Monologen gegen die Verengung seiner touristisch genormten Welt anrast. Wo er Landschaft will, stößt er an Zäune und innerhalb ist alles vorformatierter Geschmack, westlicher Standard, ein ununterscheidbares Einerlei. Neben dieses Kleinhalten der Vorstellungskraft setzt der Text eine zweite Stimme, die mit der Kalkulation ganz realer Grenzen beauftragt ist. Zäune berechnen und Auffanglager kalkulieren, die aufhalten, wer immer aus Afrika nach Europa will: Das ist die Aufgabe der zweiten Figur. In Marokko und in Gran Canaria, wo Europa für den vor der Armut Flüchtenden noch immer nicht beginnen will.
Das ist eine zynische Konstellation, die Charlotte Roos, geb. 1974 und zurzeit Studentin am Literaturinstitut Leipzig, in undurchlässig gegeneinander abgeschottete Textblöcke gegossen hat. Gerade im gegenseitigen Ausschluss der beiden Perspektiven liegt ja ein Teil des Problems des egoistisch die eigenen Interessen nie verlassenden Denkens, aber ebenso auch ein Teil des absurden Witzes des Stücks. Denn so prallt in der stringenten Inszenierung von Linda Best Textkante an Textkante, und die Rede von der Langeweile in saisonal vereinsamten Hotelanlagen rasselt in die Rechnung des Bettenbedarfs für die, die die Flucht übers Wasser überlebt haben. Geisterhaft sieht man das Unausgesprochene mit: Warum nicht die einen in die Betten der anderen legen. Die Inszenierung verstärkt das Gefühl der Horizontverengung. Von drei Seiten schließt das Publikum die kleine Spielfläche ein.
Aus dem Mund des Kalkulators erfährt man viele erschreckende Daten über die Chancenlosigkeit der Einwanderungswilligen und die gewaltigen wirtschaftlichen Ressourcen, die ihr Fernhalten verschlingt. Im Versuch, ein solches Problem auf die Bühne zu hieven und ein verdrängtes Wissen sichtbar zu machen, ist Roos Stück typisch für den Spielplan des diskurswilligen Theaterhauses Jena. Der Gestus ist dabei weder anklagend noch agitatorisch, sondern mehr ein Offenlegen von Fragen: Wie kann man sich zu diesem politischen Geschehen ins Verhältnis setzen? Der Zugang mag unbedarft scheinen, er ist aber auch erstaunlich ehrlich: Das kann ich wissen, das kann ich mir vorstellen, anderes nicht.
11 neue Texte und kollektive Stückentwicklungen brachte das Theaterhaus Jena in dieser Spielzeit heraus. Roos Inseldrama ging dabei schon ein thematisch verwandtes Stück über die Spaltung der Welt voraus, "Geisterschiff" von Margareth Obexer. Klüger und vielschichtiger gebaut, kreuzt auch das "Geisterschiff" in den Gewässern, in denen in Seenot geratene Migranten aus Afrika den Tod fanden. Deren Drama freilich bleibt unerzählt; zum Reden auf einer schwankenden und zunehmend von Treibgut vermüllten Bühne kommen vielmehr die, die mit den Katastrophenthemen Karriere machen, von den Medien bis zu einer an die Politik andockenden Philosophie und Eventkultur. Die Inszenierung von Alice Buddenberg, noch Regiestudentin in Hamburg, traute sich gerade auch, die bösen und politisch unkorrekten Töne auszumalen, etwa in der Kultivierung von westlichem Unbehagen und schlechtem Gewissen, kam aber dann von der Karikatur oft nicht mehr schnell genug weg.
Neue Texte, junge Regisseure, Schauspieler frisch von der Schule: Das ist in Jena nicht nur deshalb so, weil man unbedingt jung sein will in dieser von Studenten geprägten kleinen Stadt. Sondern auch, weil das Haus seit seiner Gründung kurz nach der Wende fast nur Anfängergehälter zahlen kann. Die fehlende Durchdringung unterschiedlicher Erfahrungshorizonte ist ein Problem, nicht nur in Jena, sondern auch an anderen Stadttheatern, die den Nachwuchs in Studio und Nischenprogrammen zusammenstecken. Um dagegen zu halten, wünscht sich Martin Wigger, seit einer Spielzeit als Dramaturg im Dreierteam der künstlerischen Leitung (mit Markus Heinzelmann und Christin Bahnert), das Programm mehr wie eine Autorenschule ausbauen zu können: weiter mit einer Konzentration auf Texte der Gegenwart, aber mit mehr Möglichkeiten der Autorenbetreuung und probeweisen Inszenierung.
Das Ensemble ist klein. Acht Schauspieler schultern die Textmassen, Positionsbestimmungen und Weltreflektionen, für die überall in der Stadt mit Plakaten an Laternenpfählen geworben wird. Von den Schließungen und Fusionen, die viele alte Theater und größere Dreispartenhäuser in Thüringen in den letzten Jahren bedroht haben, blieb man ausgenommen: Jena ist sogar das einzige Haus, dessen Etat (von Land und Stadt gezahlt) zur Spielzeit 2008/2009 erhöht wird, um 100.000 Euro. Das liegt freilich nicht nur an einer Anerkennung des Programms, sondern auch daran, dass das Theaterhaus Jena mit 1,6 Millionen Euro Förderung einer der kleinsten Posten im Kulturhaushalt ist. 1989 von arbeitshungrigen Schauspielabsolventen und Regisseuren initiiert, finanzierte es sich erst über ABM-Stellen, bis 1993 eine GmbH gegründet wurde. Niemand wird hier nach Tarif bezahlt.
Andrea Hesse, Gründungsmitglied und Gesellschafterin, macht heute die Öffentlichkeitsarbeit des Hauses. Sie seufzt über Kompromisse, die zwischen den Gesellschaftern und der künstlerischen Leitung ausgehandelt werden, um den Etat einzuhalten. Da trösten die Erfolge, wie die Einladung zu den Autorentheatertagen am Hamburger Thalia-Theater im Mai mit Katarina Schmitts "Knock Out" und zu dem Festival "Radikal Jung" am Münchner Volkstheater Ende April mit "Second Life". Zumal dieses Stück von dem Regisseur Tomas Schweigen zusammen mit dem Ensemble entwickelt wurde.
Für "Second Life" verwandelt sich der hohe Bühnenraum in einen flachen Gemeindesaal, in den junge Christenfreaks, verklemmt gekämmt, zu einer Aufklärungsstunde über Ersatzleben in virtuellen Welten eingeladen haben. Was freundlich und verdächtig konfliktfrei beginnt, offenbart erst unterschwellig, dann offen ausbrechend eine gefährlich fundamentalistische Basis, die immer mehr ins Wahnsinnige rutscht. Hirnforscher treten auf, die Gottes Wohnort in der Biochemie der Gehirnlappen erklären, Creationisten wettern gegen das Spiel in Parallelwelten, bis sie selbst zu Figuren darin werden. Die wilde Jagd durch angesagte Diskurse steigert sich stetig und nutzt den doppelten Boden von Wirklichkeit und Fiktion auf dem Theater, um auch alle anderen Systeme von Glauben und Wissenschaft ins Wackeln zu bringen.
Schon vor acht Jahren schrieb sich das Haus ins Programmbuch, die Auseinandersetzung mit "persönlicher Orientierungs- und Ratlosigkeit" zu suchen: "Utopien entwickeln sich aus Entbehrungen, es wird nötig sein, den Mangel zu untersuchen." Auch die jetzige Spielzeit folgte der Frage: "Welche Welten sind denkbar?" Tatsächlich lässt sich fast jedes Stück zu diesem Fond in Beziehung setzen: "Second Life" mit seinen konkurrierenden Modellen von einer neuen Schöpfung, oder "Freaks", eine extrem schrullige Außenseiterromanze, die in einem Jugendclub gespielt wird.
Hier kostet der Eintritt 5 Euro, plus 10 Cent Ökostromabgabe, und einige Zuschauer stellen am Ende fest, dass sie in Weimar, neulich zum doppelten Preis, auch keine besseren Schauspieler gesehen haben. "Freaks", nach einem Roman des amerikanischen Autors Joey Goebel von Eike Hannemann als Regisseur entwickelt, lebt von der Koketterie mit dem Dilettantismus: Denn die Figuren bilden zusammen eine Band, deren Proben stets von persönlichen Katastrophen verhindert werden. Die Schauspieler also mussten in ungefähr sechs Wochen zum Beispiel Schlagzeug lernen. Sie sehen dabei aber sehr gut aus: Als "Aurora" etwa, die aus Furcht, nur als Sexobjekt betrachtet zu werden, in einen Rollstuhl flüchtete, oder als "Ray", ein Iraker, der in die USA kam, um den amerikanischen Soldaten, den er im Golfkrieg angeschossen hat, zu finden und um Vergebung zu bitten. Natürlich ist es haarsträubend, wie Themen hier über unglaublich konstruierte Figuren bedient werden: Und doch glaubt man durch die groben Striche der Konstruktion auf einen anrührenden Hunger nach Zusammenhang und Zusammenhalt zu schauen.
Vielleicht ist das tatsächlich die Stärke dieses Hauses: Fehlstellen zu markieren. Schließlich ist das Haus, seine Architektur, selbst so ein halbes Ding. Denn alles spielt sich auf der ehemaligen Hinterbühne ab, dort sitzt auch das Publikum. Den ehemaligen Zuschauerraum gibt es schon seit den Bomben des Zweiten Weltkriegs nicht mehr. Dort ist jetzt eine freie Fläche, die nur im Sommer bespielt wird.
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