piwik no script img

„Junge Männer“ und „Fahrschein“ triggert einen ausgewachsenen Rattenschwanz An Stereotypen vom Wir und IhrFantasien wie ein Abziehbild

German Angst

Sonja Vogel

Als ich nach Berlin zog, habe ich das als Erstes gelernt: Wenn ich bei einer Kontrolle einen Fahrschein habe, suche ich lange danach. Denn vielleicht hat jemand keinen und kann sich, während ich in der Tasche krame, schnell verkrümeln. So machten es damals viele. Und es leuchtete mir sofort ein, haben doch einige Menschen mehr Möglichkeiten als andere, mehr Geld. Privilegien. Und das Recht auf Bewegungsfreiheit steht höher als die Pflicht, ein Ticket mit sich zu führen. Oder etwa nicht?

Das ist Jahre her. Der Fahrschein ist zwischenzeitlich zur Trophäe des redlichen Deutschen aufgestiegen. Letzte Woche hörte ich in einer Kleinstadt ein Gespräch mit. „Wenn ich mich schwarz anmale und ’ne Basecap aufsetze, brauch ich keinen Fahrschein mehr“, sagt einer. Sein Gegenüber lacht. Aber sie meinen es ernst.

Ich habe sie zuletzt oft gehört, von Bekannten, oder bin im Internet darüber gestolpert: Geschichten von jungen Männern, die sich nicht an die („unsere“) Regeln halten. Von Kontrolleuren, die sich nicht trauten, ihre Arbeit zu machen. Von Gratis­tickets etc. Es sind Fantasien wie ein Abziehbild, das bei jedem Abzug etwas mehr zerläuft. Nur das Muster bleibt gleich.

Denn „junge Männer“ sind natürlich nicht irgendwelche, sondern „Schwarze“, „Flüchtlinge“, „aus dem Maghreb“ oder „Ausländer“. Und „Fahrkarte“ steht wohl für: die Erlaubnis sich in Deutschland auch als Nichtdeutscher frei zu bewegen. Das Ticket als Passersatz. „Junge Männer“ und „Fahrschein“ triggert einen ausgewachsenen Rattenschwanz an Stereotypen vom Wir und Ihr. Redlichkeit ist bekanntlich eine deutsche Tugend. Sie macht die Rede vom Schwarzfahren besonders obsessiv. „Fahrscheinkontrolleure sind die Säulen dieser Gesellschaft“, wusste schon Hape Kerkeling. Er meinte es hoffentlich ironisch.

Im Mai hatte Boris Palmer, Spezialist für Jungmännergeschichten, auf Facebook zum Thema gepostet. Unironisch. Nun erinnere ich mich daran. Ein Handyschnappschuss zeigte junge Männer auf einem Bahnsteig, nur ein Gesicht notdürftig verfremdet. Der Tübinger OB schrieb darunter: „Sigmaringen. Bahnhof. Fünf junge Männer. Offensiver Auftritt. Kontrolle im Zug: Keiner hat einen Fahrschein. Zugfahrten haben sich verändert in den letzten Jahren. Ist es rassistisch, das zu beschreiben?“ Als Ritter der Redlichen hat Palmer diese („offensiven“) „jungen Männer“ zwar nicht selbst gestellt, doch ausgestellt. Seine rhetorische Volte folgt dem Modell der konformistischen Revolte: an die Herrschenden adressiert, aber gegen die Schwächsten gerichtet. Wir Braven und Redlichen, ihr Offensiven und Regelbrecher. Es ist diese Mischung aus Gehorsam und Auflehnung, mit der schon Adorno den autoritären Charakter beschrieb. Dieser kollektive Narzissmus hilft dabei, die „Anderen“ genau so zu sehen, wie sie das Klischee gezeichnet hat: als aggressiv, undankbar, asozial. Das zu zeigen, braucht es einen deutschen Saubermann, der stellvertretend den Menschenschmutz auf dem Bahnsteig zusammenkehrt. Öffentlich. Unzählige haben dies vor Palmer gemacht. Und Unzählige machen es ihm nach.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen