Juliette Gréco: "Die Leidenschaft ist riesig"
Jedes Lied und jede Revolution kommt auf der Straße zur Welt. Daran glaubt Juliette Gréco. Auch mit 80 Jahren findet sie es noch immer großartig, auf der Bühne zu stehen.
Juliette Greco feiert in diesem Jahr 80. Geburtstag und 60 Jahre auf der Bühne. Nach ersten Auftritten 1947 im Jazzlokal "Tabou-Club" im Quartier Saint-Germain-des-Prés wurde sie die Muse der Intellektuellen und Schriftsteller auf der linken Seite der Seine. Viele von ihnen, darunter Jean-Paul Sartre, Albert Camus, Raymond Queneau, Jacques Prévert und Serge Gainsbourg, schrieben Texte für sie.
In ihrem Publikum saßen auch Jean-Paul Sartre und Marlene Dietrich. Ganz in Schwarz gekleidet, mit beinahe weißem Gesicht und einer sinnlich-tiefen Stimme singt Juliette Gréco ein Repertoire, das von französischem Varieté bis zu politischen Liedern reicht. In einem ihrer Hits fordert sie ihr Gegenüber auf, sie langsam auzuziehen: "Deshabillez-moi". In einem anderen wütet sie über die Sonntage: "Je hai les dimanches." Zu ihren internationalen Erfolgen gehört auch "La Javanaise" von Gainsbourg. Vor sechs Jahren hat Juliette Gréco bei einem Konzert in Montpellier einen Schwächeanfall erlitten. Doch seither ist sie immer wieder auf die Bühne gegangen. Ihr neues Album "Le temps dune chanson" erscheint zum Jahresende.
taz: Sie sehen fantastisch aus. Offensichtlich sind Sie in ausgezeichneter Form.
Juliette Gréco: Nein. Ich werde bald 81 Jahre alt. Ich bin sehr müde. Ich schlafe sehr wenig. Ich bin sehr unruhig. Und ich habe viel Arbeit. Aber ça va. Ich verstehe selbst nicht, warum. Denn ich habe eine empfindliche Gesundheit. Aber es geht. Ich lebe. Ich bin sehr, sehr lebendig. Ich kann etwa den ganzen Tag wach bleiben - ohne zu schlafen -, weil jemand mich braucht.
Was tun Sie, um fit zu bleiben?
Nichts. Ich bin sehr undiszipliniert. Ich schlafe nicht genug. Und ich esse wenig. Aber das ist vielleicht eine gute Sache. Das war immer so. Seit ich klein war.
Bereiten Sie sich heute anders auf ein Konzert vor?
Nein. Das ist immer noch der absolute Schrecken. Immer noch die tiefe Unruhe. Und die beiden großen Fragen: Wie wird es sein? Und: Werden sie mich lieben?
Sind das Fragen an das Publikum oder an sich selbst?
Die Frage ist: Wird mein Partner mich lieben?
Ein Konzert ist ein Treffen mit einem Liebhaber?
Ganz genau. Das ist es.
Ist es vorgekommen, dass ein solches Rendezvous überhaupt nicht funktioniert hat?
Natürlich. Am Anfang ist das vorgekommen. Und das war sehr, sehr grausam. Zum Glück ist es nicht oft passiert. Und auch schon sehr lange nicht mehr. Aber ich habe immer, immer Angst davor.
Haben Sie nach Erklärungen gesucht, wenn es nicht geklappt hat?
Ich konnte nicht suchen, weil mir dazu jede Grundlage fehlte. Ich habe einfach nicht verstanden. Ich war schrecklich aufrichtig. Und ich dachte, die Leute würden verstehen, dass ich einer bestimmten Sprache, einer bestimmten Musik, einem bestimmten Geist, einem bestimmten Kampf diene
Viele Dichter und Schriftsteller haben Texte für Sie geschrieben. Wie wählen Sie aus, was Sie tatsächlich singen?
Es geht, oder es geht nicht. Ich habe Lust. Oder ich habe keine Lust. Es gibt Ideen, die ich vertreten möchte. Und es gibt Worte, Ideen und Dämonen, die mich bewegen. Ich kann nicht den Mund öffnen, um nichts zu sagen. Das wäre sehr, sehr ungehörig.
Welche Dämonen bewegen Sie zur Zeit?
Was mich aufwühlt, das ist nach wie vor die Liebe. In all ihren Formen. Immer die Ungerechtigkeit. Immer ein gewisser Kampf für unsere Freiheit. Wir sind Frauen. Ich sehe Sie. Und ich sehe mich in Ihren Augen, wie in einem kleinen Spiegel. Sie sind eine Frau, das ist eine sehr wichtige Sache. Und da ist immer eine große Gefahr.
Welche Gefahr?
Wir sind nicht so viel weiter gekommen.
Was meinen Sie?
Wir Frauen haben eine gewisse Freiheit errungen. Aber sie ist nicht selbstverständlich. Wir müssen uns immer noch schlagen, um denselben Lohn zu bekommen. Eine Frau muss mehr arbeiten und härter kämpfen als ein Mann. Kämpfen - das ist unsere Natur: nicht die des Mannes. Wer macht die Jagd? Die Löwin, nicht der Löwe.
Die jungen Chansonniers sind weniger sozial und politisch engagiert als Ihre Generation. Woran liegt das?
Sie sind weniger idealistisch. Weniger am anderen interessiert. Am Glück des anderen. Vielleicht ist das ein Stück Bequemlichkeit. Vielleicht verdienen sie auch besser.
Es gibt - zur Zeit gerade in Frankreich - auch einen politischen Seitenwechsel von Künstlern und Intellektuellen. Heute treten viele mit Sarkozy auf. Ihre Generation war - wenn politisch - dann links.
Auch ich bin überrascht von vielen Dingen: die Unterstützung von Leuten für Sarkozy. Die Sozialisten, die wichtige Posten von ihm annehmen. Vielleicht fühlen sie sich nützlich. Das Problem Sarkozy habe ich noch nicht gelöst. Ich brauche noch Zeit zum Nachdenken. Ich bin keine Politikerin.
Ich wollte Sie auch nicht auf das Terrain von Politikern bringen.
Ach, das können Sie ruhig machen. Bringen Sie mich, wohin Sie wollen. Fragen Sie. Ich versuche, eine Antwort zu finden. Ich finde es seltsam, eine rechte Regierung zu bilden, mit Politikern aus der Linken. Und bis zum Beweis des Gegenteils weiß ich nicht, wie das funktionieren soll.
Sie sind auch für Politiker aufgetreten.
Für Mitterrand 1981.
Was hat Sie veranlasst, das für Mitterrand zu tun?
Seine außergewöhnliche Verführungskraft, seine Intelligenz und seine Kultur. Er war immerhin trotz allem ein bisschen links.
Ein bisschen?
Nicht total. Aber immerhin etwas.
Haben Sie auch seine 14 Jahre an der Macht in guter Erinnerung behalten?
Er ist ein extrem wichtiger Politiker, der bleiben wird. Er hatte die Intelligenz eines Schriftstellers, er war ein Mann des Wortes. Ein beunruhigendes Wesen. Ich kann der Intelligenz nur schwer widerstehen.
Sie haben schon in den frühen Jahren Ihrer Karriere jüngere Kollegen unterstützt.
Vor allen Dingen habe ich versucht, zu helfen. Ich bin eine Interpretin. Das ist mein Beruf. Ich bin eine Dienerin. Ich diene den Dichtern. Und ich diene den Musikern. Ich habe immer junge Leute gesucht.
Zum Beispiel Gainsbourg oder Brel.
Ich war ein klein wenig bekannter als sie. Wir haben zusammen angefangen.
Die Musiker, die Sie unterstützen, sind immer jünger geworden. Zur Zeit gehört Benjamin Biolay dazu.
Natürlich. Oder Miossek. Oder der Rapper Abdel Malik.
In der Nachkriegszeit war Paris der wichtigste Ort für Musik. Danach die englischsprachigen Länder. Wo entsteht heute die Musik? In New York? In Berlin vielleicht?
Ich weiß es nicht. Ich glaube, es gibt in jedem Land einen Zyklus. In Frankreich, was ich etwas kenne, muss man Ideen haben, um zu schreiben. Soziale und politische Ideen. Warum lächeln Sie jetzt?
Es freut mich, was Sie sagen.
Das ist eine Banalität. Wenn Sie keine sozialen und politischen Ideen haben, was wollen Sie dann singen? Vielleicht: "amour, toujours, tambours"? Sicher, das reimt sich. Aber es will nichts heißen. In Frankreich gibt es eine revolutionäre Tradition. Und die haben wir ein wenig verloren. Jede Revolution und jedes Lied kommt auf der Straße zur Welt. Was ist "Le Temps des cerises"? Es ist ein Chanson, das in einer blutigen Revolution geschrieben wurde. Und es ist ein Liebeslied.
Sie waren eine der Ersten aus Frankreich, die nach dem Krieg wieder in Deutschland aufgetreten sind. Obwohl Ihre Mutter und Schwester in einem KZ waren. Was hat es damals bei Ihnen ausgelöst, in Deutschland zu singen? Hatten Sie Angst?
Nicht alle Deutschen sind Nazis. Nicht alle Franzosen sind Widerstandskämpfer. Und die Kinder sind nicht für ihre Eltern verantwortlich. Der Sohn eines Mörders und Monsters ist nicht dafür verantwortlich, was sein Vater getan hat. Wenn ich einen Deutschen in meinem Alter treffe, der mir sagt: "Ich liebe Frankreich sehr." Dann sage ich mir: "Du warst in meinem Haus." Aber das ist alles. Für mich ist Deutschland ein neues Land. Sie sind nicht verantwortlich für Hitler.
Wo sind Sie damals aufgetreten?
Als ich zum ersten Mal in Deutschland war, gab es zwei Deutschland. Ich war im Friedrichstadtpalast, im Osten. Auf Wunsch von Herbert von Karajan. Er hatte auch entschieden, dass ich in der Philharmonie im Westen auftreten soll. Ich habe im Abstand von zwei Tagen Friedrichstadtpalast und Philharmonie gemacht. Warum Karajan das so entschieden hat, habe ich nie erfahren. Als die Mädchen mit den Platten zum Signieren kamen, haben sie mir gesagt: "Der Meister ist gekommen. Er ist während des Spektakels zwischen zwei Türen stehen geblieben. Hat sich nicht gesetzt. Dann ist er gegangen." Seltsam. Sehr seltsam.
Wir treffen uns in Saint-Germain-des-Prés. Hier war das Zentrum Ihres Lebens vor 60 Jahren. Was ist aus dem Quartier geworden?
Es tut sich immer noch etwas. Es gibt abends Jazzkonzerte. Es gibt mehr Buchläden. Es gibt sehr viel Kleider. Sehr viel Mode. Sehr viel Schmuck - Dinge, die wir nicht besonders kannten.
Haben andere Pariser Quartiere - oder vielleicht die Banlieue - die Nachfolge von Saint-Germain-des-Prés aus der Nachkriegszeit übernommen?
Saint-Germain-des-Prés war eine Explosion von Freiheit und von Fröhlichkeit. Nach dem Krieg gab es zwei Dinge: die Atombombe. Und die Bombe der Freiheit. Plötzlich hatten wir das Recht, zu leben. Zu diskutieren. Die Deutschen waren weg, die Besatzer. Man konnte sich auf die Straße setzen und lachen.
Seit 60 Jahren stehen Sie auf der Bühne. Sie sind seit vielen Jahrzehnten weltbekannt. Was zieht Sie heute auf die Bühne?
Die Nachfrage der anderen. Und das eigene Begehren.
Vermutlich ist das eigene Begehren wichtiger?
Wenn es keine Nachfrage gibt, wird das eigene Begehren bitter. Es ist großartig, wenn man mich anruft. Ich bin 80 Jahre alt. Die Leute fragen mich, wollen Sie singen? "Oui", sage ich.
Was ändert sich im Leben am meisten: der Körper, die Stimme, die Gefühle?
Das Äußere.
Das Empfinden nicht?
Nein. Überhaupt nicht. Die Kraft ist gewaltig. Die Liebe ist riesig. Die Leidenschaft ist riesig. Die Lust ist riesig. Ich habe ganz einfach nicht mehr denselben Kopf wie vor 30 Jahren. Das ist alles. Dagegen kann man nichts tun. Ich habe allerdings das Glück, nicht allzu garstig auszusehen.
INTERVIEW DOROTHEA HAHN
13.11., Berlin, Admiralspalast. 16. 11., München, Prinzregententheater
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