Von Homies und Leichtmatrosen

Für Heranwachsende: Alex Wheatles Jugendroman und Øyvind Torseters Graphic Novel erzählen von Selbstbehauptung und Glückssuche ihrer mittellosen Protagonisten

Beide Szenen von Øyvind Torseter aus „Hans sticht in See. Die Irrfahrt und Heimkehr eines …“ Gerstenberg Foto: Abbildungen:

Von Eva-Christina Meier

Du kannst Dich also verziehen und deinen Körpergeruch in einem anderen Postleitzahlenbezirk verbreiten – wir müssen lernen.“ Elaine, Mo und Naomi sind nicht auf den Mund gefallen, wenn es darum geht, den Jungs aus dem Viertel Paroli zu bieten. In „Wer braucht ein Herz, wenn es gebrochen werden kann“, dem dritten Roman der Crongton-Trilogie über Jugendliche in einem sozial abgehängten (fiktiven) Londoner Vorort, stehen die drei fünfzehnjährigen Mädchen im Mittelpunkt. Alex Wheatles Erzählung handelt von ihrer verlässlichen Freundschaft und dem Wunsch nach Selbstbehauptung unter widrigsten Umständen.

Der britische Autor, der selbst seine Kindheit im Heim verbrachte und erst im Gefängnis die Literatur für sich entdeckte, schildert darin lebendig den Mikrokosmos des Viertels und den Alltag seiner Bewohner aus der Perspektive Mo Bakers. Die lebt mit ihrer labilen Mutter in einem der Sozialblöcke von South Crongton. Von Lloyd, dem neuen Freund der Mutter, hält sie nicht viel.

Er ist auf Bewährung draußen und ohne Job. Zwischen ihm und dem Mädchen gibt es ständig Stress, seit er bei ihnen wohnt. Als Lloyd wiederholt auf Mo einschlägt, zieht sie vorübergehend zu ihrer Freundin Elaine und deren jamaikanischer Familie. (Elaines kleiner Bruder Lemar Jackson begegnete den Lesern als „Liccle Bit“ bereits im gleichnamigen, ersten Band der Trilogie.) Nur die Väter sind überall die Abwesenden.

Lebendige Dialoge

Angelehnt an den lokalen Jargon wählt Wheatle für den Jugendroman eine Sprache, die von lebendigen Dialogen voll Übertreibungen und Drastik lebt. Überzeugend gelingt es ihm, die ganz eigene Erfahrungs- und Gefühlswelt seiner Protagonisten lebendig abzubilden. Besonders gilt dies für die Stimme seiner Erzählerin Mo, die zwischen blinder Wut, verbaler Abgeklärtheit und großer Verletzlichkeit schwankt. Die Herausforderung, den britischen Slang ohne Peinlichkeit ins Deutsche zu übertragen, meistert die Übersetzerin Conny Lösch fast immer überraschend souverän.

Scheinbar zwangsläufig nehmen die Ereignisse für Mo und ihre Freundinnen einen verhängnisvollen Verlauf. Naomi, die im Heim wohnt, lässt sich trotz Warnung auf eine Affäre mit dem zwanzigjährigen Linval ein. Der gehört zur South-Crong-Gang von Folly Ranks und dem gewalttätigen Manjaro. Doch Elaines Bedenken kontert das Mädchen forsch: „Was?“, fragte Naomi. „Meinst du, ich verlass mich darauf, dass Linval Kondome kauft? Hab ich ‚dumm‘ auf den Arsch tätowiert.“

Und während Mo mit Sam, dem Freund aus Kindertagen mit der hinreissenden Afro-Cornrows-Frisur, eine zarte Teenager-Romance beginnt, eskaliert bei ihr zu Hause die Situation.

Sicherlich spielt Alex Wheatle in dem packend erzählten Roman mit allerhand bekannten Gangsta-Klischees, doch vor allem macht er die Ambivalenz und innere Zerrissenheit der drei zornigen, jungen Frauen deutlich, die – anders als ihre Mütter – die Verhältnisse nicht erdulden wollen.

Sympathischer Antiheld

Von der modernen Odyssee eines mittellosen Außenseiters erzählt der norwegische Illustrator Øyvind Torseter in seiner neuen, virtuos gestalteten Bildgeschichte „Hans sticht in See. Die Irrfahrt und Heimkehr eines mittellosen Burschen auf der Suche nach dem Glück“. In dem mit Elementen aus der griechischen Mythologie und dem Märchen bestückten Comic stoßen wir wieder auf Hans, den molchhaften Schlaks, der als sympathischer Antiheld bereits in Torseters Abenteuer „Der siebente Bruder“ mit lakonischem Witz begeisterte. 2018 wurde diese Graphic Novel mit dem Jugendliteraturpreis prämiert.

Nun fliegt Hans aus der Wohnung. Seine Habseligkeiten werden kostenpflichtig eingelagert. Den Job bei einem Friseur verliert der haarlose Held wegen Unfähigkeit. Bei einer Tasse Kaffee ertränkt er seine Sorgen in einer finsteren Hafenkneipe. Dort trifft Hans auf einen vermögenden Sammler, der ihn für eine Expedition anheuern will. Mit Hilfe einer alten Schatzkarte hofft er das größte Auge der Welt zu bergen.

Torseters Zeichenstil ist vielfältig. So wechseln reduziert gestaltete Sequenzen in Schwarz-Weiß, cartoonhafte Collagen und detailreich gezeichnete, farbige Tableaus einander ab. Eine faszinierende Doppelseite zeigt das private Museum des Schatzsuchers als Wunderkammer, in der zwischen allerlei Exponaten auch die in Formaldehyd eingelegte zerteilte Kuh des britischen Künstlers Damian Hirst, einen römischen Legionär oder den Weihnachtsbaum aus Tomi Ungerers grandiosem Frühwerk „Die Abenteuer der Familie Mellops“ zu entdecken ist.

Schließlich an Bord wird Hans von seinem misanthropen Auftraggeber (mit Elefantenrüssel gezeichnet) rund um die Uhr in der Kombüse, als Navigator oder Steuermann vernutzt. Doch zum Glück trifft der Matrose unter Deck das Mädchen aus der Hafenkneipe wieder, das sich als blinde Passagierin auf das Schiff geschlichen hat. Nun nicht mehr ganz allein, wendet sich für den armen Kerl das Schicksal bald – das Abenteuer kann beginnen. Dabei bietet Øyvind Torseter in seinem Comic durch vielfältige Bezüge eine lustvolle Lektüre auf verschiedenen Ebenen und für fast jedes Alter.

Alex Wheatle: „Wer braucht ein Herz, wenn es gebrochen werden kann“. Aus dem Englischen übersetzt von Conny Lösch. Antje Kunstmann Verlag, München, 2019, 280 Seiten, gebunden, 18 Euro, ab 14 Jahren

Øyvind Torseter: „Hans sticht in See. Die Irrfahrt und Heimkehr eines mittellosen Burschen auf der Suche nach dem Glück“. Aus dem Norwegischen übersetzt von Maile Dörries. Gerstenberg Verlag, Hildesheim, 2019, 160 Seiten, gebunden, 26 Euro

Weitere Empfehlungen aus den Frühjahrsprogrammen der Kinder- und Jugendbuchverlage:

Gesine Grotrian (Illustration) und Susan Schädlich (Text): „Fragen an Europa“

Verlag Beltz & Gelberg, Weinheim 2019, 140 Seiten, gebunden, 16,95 Euro, ab 12 Jahren

Aus Anlass der aktuellen Diskussionen über Brexit und EU-Müdigkeit entwickelten die Autorinnen, unterstützt von Beratern im Alter von 14 bis 18 Jahren, den grafisch sehr ansprechend gestalteten Reader „Fragen an Europa“. Dafür trugen sie eine Auswahl von 60 spannenden Fragen und Antworten zusammen – von „Wer isst am meisten Schokolade“ über „Wer gibt wie viel für Klamotten aus“ oder „Was ist Populismus?“ bis zu „Wie entstehen Staatsschulden?“.

Eymard Toledo: „Juju und Jojô. Eine Geschichte aus der Großstadt“

Aus dem Portugiesischen von Michael Kegler.

Baobab Books, Basel 2019,40 Seiten, gebunden,16,50 Euro,ab 5 Jahren

Die Zwillinge Juju und Jojô leben in einer der brasilianischen Megastädte. Täglich blicken die Mädchen aus dem mehrstöckigen Wohnhaus auf eine Verkehrslawine, die sich durch ihre Straße schiebt. Nur am Sonntag, wenn die Bürohochhäuser gegenüber geschlossen bleiben, wird es ruhig. Dann beobachten sie die Schmetterlinge, Vögel und Ameisen auf dem Jabuticababaum vor ihrem Haus oder unterhalten sich von Balkon zu Balkon mit Donna Filó, der älteren Nachbarin über ihnen. Mit verblüffend räumlich wirkenden Kollagen aus Papier- oder Verpackungsresten entwickelt die in Mainz lebende Brasilianerin Eymard Toledo eindrückliche Bilder vom Großstadtalltag der Mädchen. Unverklärt erzählt sie von Naturerfahrung unter anderen Bedingungen.