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Jugendarrest für Schul­ver­mei­de­rNiedersachsen bleibt Wegsperrmeister

Auch wenn's viel kostet und niemand weiß, ob es jemandem nutzt: In Niedersachsen landen Schulvermeider oft im Arrest. Anders als in Schleswig-Holstein.

Das öffentliche Bild von Absentismus ist eher verzerrt: Blick in ein jugendpsychiatrisches Projekt in der Klinikschule in Köln Foto: Rolf Vennenbernd/dpa

BREMEN taz | Niedersachsen sperrt weg. Nicht flächendeckend, nicht systematisch, aber die Wahrscheinlichkeit, dort wegen Schulweigerung in Jugendarrest zu kommen, ist allen bekannten Zahlen zufolge zehnmal so hoch wie in Hamburg: Jährlich werden zwischen Göttingen und Norderney im Schnitt gut 400 Jugendliche deshalb eingesperrt.

In Schleswig-Holstein wiederum scheint es diese Praxis gar nicht zu geben. Das dortige Bildungsministerium beteuert, von keinerlei Arrestfällen Kenntnis zu haben. Stichproben auf Kreisebene erhärten diese Einschätzung.

Ganz sicher kann man aber nicht sein. Denn mit den Zahlen zu Schulabsentismus ist das so eine Sache. „Die Datenlage in Deutschland ist unbefriedigend“, so Heinrich Ricking.

Der Pädagoge war von 2014 bis 2022 Professor in Oldenburg. Mittlerweile ist er an die Uni Leipzig gewechselt, erforscht aber weiterhin schulisches Scheitern – und wie es sich vermeiden lässt.

Ungezählte Ängste

Aber anders als in Großbritannien oder den Niederlanden „wissen wir in Deutschland noch nicht einmal, ob, geschweige denn wie sich die Fehlzeiten seit Corona entwickelt haben“, so Ricking. Zusammen mit der Flensburger Professorin Marie-Christine Vierbuchen sucht er gegenwärtig in Schleswig-Holstein im Auftrag des Bildungsministeriums nach Ursachen für dauerhaftes Fernbleiben vom Unterricht. Die sind vielfältig. Angst vor Institution oder Mit­schü­le­r*in­nen wird in der Literatur häufig als ein Grund angeführt.

Der erste Schritt zum Verständnis eines Phänomens ist, es zu quantifizieren: Auch in Schleswig-Holstein gibt es bislang keine entsprechenden Statistiken. Zuletzt hatte Kiel im März 2023 eine Zahl zu Schulverweigerung veröffentlicht, in einer Antwort auf eine parlamentarische Anfrage.

Die Rede ist darin von 2.324 Schüler*innen, die im vorhergehenden Schulhalbjahr auf mehr als 40 Fehltage gekommen seien. Allerdings waren das nur die Werte von 394 der 795 Schulen des Landes. Insofern dürfte die Gesamtzahl etwa doppelt so hoch gelegen haben – also rund 1,2 Prozent der Schü­le­r*in­nen des Landes betreffen. In Hamburg waren im gleichen Zeitraum Schulpflichtverletzungen von rund 0,8 Prozent der Schü­le­r*in­nen erfasst worden.

Schwammige Auskünfte

Schwammiger sind die Auskünfte aus Kiel zu den so genannten Verwaltungsvollzugsverfahren: Auch Schulämter können in Schleswig-Holstein ein Zwangsgeld verhängen, gegen die Eltern, im Zweifel aber auch gegen Schüler*innen: Das kommt offenbar fast nie vor.

Gar keine Auskunft gibt es über Ordnungswidrigkeitsverfahren: Die lägen schließlich ganz in kommunaler Hand, bei Land­rä­t*in­nen oder den Bürgermeister*innen. Wie oft sie Bußgelder in diesem Sinne verhängt haben, „wird nicht statistisch erfasst“, heißt es in der Landtagsdrucksache von 2023. Zwei Jahre später ist darüber nicht mehr bekannt.

Das aber ist der Weg, über den Schulvermeidung in Niedersachsen in den Jugendarrest führt: Dort hatte der Landesrechnungshof (LRH) für den im September vorgelegten Kommunalbericht auch untersucht, wie mit Schulpflichtverletzungen im Lande umgegangen wird. Anlass: ein vermuteter Zusammenhang zwischen Absentismus und fehlenden Abschlüssen.

Bußgelder wegen ständigen Fehlens

„Bei Schulpflichtverletzungen“, so die nicht näher begründete ideologische Prämisse der Erhebung, sei es „wichtig, konsequent sowohl pädagogische Maßnahmen als auch ordnungsrechtliche Verfahren einzuleiten“.

Das lässt sich aus den Zahlen nicht ableiten. Die sind aber für sich genommen beeindruckend: Die laut LRH repräsentative Stichprobe des Kommunalberichts erfasst fast zehn Prozent der weiterführenden allgemeinbildenden Schulen.

Im letzten Jahr der Untersuchung waren sie zuständig für etwa 8,5 Prozent der niedersächsischen Schü­le­r*in­nen der Sekundarstufen, nämlich 48.711. Allein im Jahr 2022 haben diese Jugendlichen 1.126 Ordnungswidrigkeitsanzeigen wegen Schulpflichtverletzungen erhalten – also Bußgelder wegen ständigen Fehlens. Das entspricht einer Quote von 2,3 Prozent.

Keine Statistik über Fehlzeiten

Mehr als ein Fünftel der betroffenen Schü­le­r*in­nen sei, „anstatt das ihnen auferlegte Bußgeld zu bezahlen“, so der LRH, „in den Jugendarrest gegangen“. Allem Anschein nach hat Schulvermeidung seither noch deutlich zugenommen. Das zeigt eine Auswertung niedersächsischer Lokalzeitungen – in denen oft verniedlichend von Schwänzen die Rede ist.

Eine unausrottbare Fehlbezeichnung, die sogar, wenn auch in Anführungszeichen, der Sprecher des niedersächsischen Kultusministeriums, Ulrich Schubert, nutzt. Man habe keine eigenen Zahlen, lässt er wissen.

„Statistische Daten über Fehlzeiten von Schülerinnen und Schülern werden vom Kultusministerium nicht erhoben.“ Und schon gar nicht, wie oft die kommunalen Behörden dann bei Schü­le­r*in­nen oder Erziehungsberechtigten Schulpflichtverletzungen ahnden: „Angaben dazu, wie oft und in welcher Form Ordnungswidrigkeitsverfahren eingeleitet werden, werden von uns nicht erfasst“, teilt Schubert mit.

Keine Ahnung, wie Arreste wirken

Ohne das lässt sich aber auch über Erfolg oder Misserfolg dieser recht teuren Maßnahme nichts sagen: „Wie das wirkt, wissen wir nicht“, muss entsprechend Forscher Ricking in Bezug auf Arreste feststellen. „Da haben wir keine Ahnung.“ Er nennt den Jugendarrest „aus pädagogischer Sicht und in Bezug auf die Verhältnismäßigkeit der Mittel eine zweifelhafte Maßnahme.“

Zudem sorgen regionale Gefälle für Ungerechtigkeit: Landkreise und Städte verfahren je nach ihrer Fasson, was sich auch darin abzeichnet, dass die tatsächlichen, vom Justizministerium erhobenen Arrest-Zahlen deutlich niedriger liegen, als eine Hochrechnung aufgrund des LRH-Kommunalberichts erwarten ließe: „Was auf meinen Absentismus als Schüler passiert, hängt im Einzelfall mehr davon ab, wo ich wohne, als von dem, was ich getan habe“, sagt Ricking.

Offenbar schreibt sich dabei eine Tradition fort: Schon vor zehn Jahren war Niedersachsen mit damals 945 wegen Schulvermeidung arrestierten Jugendlichen deutscher Wegsperrmeister. Damals hatte die Justizministerin versprochen, etwas dagegen zu tun.

Der Erfolg ist mäßig: Noch 2019, im letzten vorpandemischen Schuljahr waren in Niedersachsen 641-mal Jugendliche wegen Absentismus weggesperrt worden – für insgesamt 3.565 Tage. Danach gab es ein paar Schwankungen.

So sei es zum Beispiel „aufgrund von Coronaauflagen“ in dieser Zeit zur „Nichtvollstreckung einiger Jugendarreste“ gekommen, erläutert ein Sprecher des niedersächsischen Justizministeriums. Die Zahl sank auf unter 300. Doch diese kurze Entspannung war schon 2023 wieder vorbei: Da waren 371-mal Schü­le­r*in­nen infolge des Fernbleibens vom Unterricht 1.601 Tage verknackt worden.

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