Jugend: Die fahrende Visitenkarte
Für Sprayer sind Bahnanlagen und Waggons von besonderem Reiz. Viele unterschätzen dabei jedoch die Gefahr durch Stromleitungen und fahrende Züge.
Sie sind fast überall in der Stadt zu finden und besonders oft an Zügen und entlang von Bahnstrecken: Graffiti in allen Formen und Farben. Für viele Jugendliche ist das Besprühen von Wänden, Zügen und Brücken ein ganz besonderer Kick - aber nicht immer ungefährlich, wie der Tod zweier Jugendlicher Graffiti-Sprayer am Wochenende in Rathenow zeigt. Sie konnten einem herannahenden ICE nicht rechtzeitig ausweichen.
Matthias Jung beschäftigt sich seit 2007 im Berliner Archiv der Jugendkulturen mit Graffitiforschung. Durch den Kontakt zu den Jugendlichen kennt er ihre Motive. "Güterzüge sind rollende Leinwände, die übers Land fahren und oft Jahre nicht geputzt werden", sagt er. "Das hat eine größere Attraktion für Jugendliche als die Wand an der Straße, die schon nach zwei Monaten überstrichen wird." Das Besprühen von S- und U-Bahnen habe hingegen einen anderen Hintergrund. Die moderne Form des Graffiti sei in New York entstanden; dort wurden erstmals U-Bahnen koloriert, so Jung. Dabei gehe es nicht um Bilder, sondern um die "tag" genannten Signaturen der einzelnen Sprayer. Dem werde heute noch nachgeeifert.
Laut Jung würden viele Jugendliche das Risiko bei ihrer illegalen Arbeit unterschätzen: "Da kommt alle paar Minuten ein Zug - aber es wird davon ausgegangen, dass man sogar ungesehen rechtzeitig ausweichen kann." Auf der anderen Seite werde das Risiko aber in Kauf genommen, um sich in der Szene zu beweisen. Ein elementarer Aspekt beim Graffiti-Sprühen sei das Konkurrenzprinzip. Dabei gehe es um die besten "Styles" an den besten Stellen.
Zahlen allein für Unfälle von Graffiti-Sprayern auf Bahnanlagen gibt es nicht. 2008 kamen deutschlandweit 109 Menschen ums Leben, weil sie sich auf den Gleisen aufhielten. "Die Zahl der Unfälle ist auf Unachtsamkeit zurückzuführen", sagt ein Sprecher der Deutschen Bahn AG. "Den Leuten ist nicht bewusst, dass ein fahrender Zug einfach einen Kilometer braucht, bis er steht." Zudem käme es zu Unfällen, weil Jugendliche im Rahmen von Mutproben auf Züge steigen und dann mit der Oberleitung in Berührung kämen. "Die Oberleitung hat immer 15.000 Volt Spannung", sagt der Sprecher. "Das ist fast immer tödlich."
Erst am Freitag war ein betrunkener Jugendlicher in Moabit auf einen Güterzug geklettert. Dort erhielt er einen Stromschlag, der ihm Verbrennungen an Kopf und Oberkörper zufügte. Ein Freund konnte den Verunglückten vom Zug holen und Hilfe rufen. "Man muss die Oberleitung nicht anfassen, um einen Schlag zu bekommen", sagt Jens Schobranski, Sprecher der Bundespolizeidirektion Berlin. "Es reicht schon, sich in der Nähe aufzuhalten."
Das Betreten von Gleisanlagen ist nicht nur für die Personen auf den Gleisen gefährlich, so Jörg Kunzendorf, Sprecher der Bundespolizei. Eine von einem Sprayer ausgelöste Notbremsung könne auch Fahrgäste des Zuges gefährden. Der Verursacher habe zu der Anzeige wegen Sachbeschädigung auch eine wegen "gefährlichen Eingriffs in den Bahnverkehr" zu erwarten.
Im vergangenen Jahr musste die Bundespolizei deutschlandweit 1.750-mal ausrücken, weil Kinder und Jugendliche auf Gleisen gemeldet wurden. Damit es gar nicht erst zu solchen Situationen kommt, hat die Bundespolizei in Zusammenarbeit mit der Bahn 2009 einen Präventionszug unter dem Motto "Fair und sicher unterwegs" in 13 Städte geschickt. Kinder und Jugendliche sollten so über die Gefahren an Bahnanlagen aufgeklärt werden. Zudem gehen Beamte auch direkt an Schulen, um Präventionsunterricht zu leisten.
Die Frage, wie viel die Präventionsarbeit bewirkt, bleibt offen. Ebenso wie die Frage, ob weniger Jugendliche Züge besprühen würden, wenn sie das Risiko besser einschätzen könnten. Vielleicht, sagt Matthias Jung, sei Graffiti auch eine Form der Sozialkritik in der Form, dass Jugendliche sich Räume selbstbestimmt aneignen und nach ihren Vorstellungen mitgestalten wollen. Also eine Form des Widerstands gegen das Saubere, Ordentliche und Kommerzielle. Und da hilft Prävention bekanntlich wenig.
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