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■ Jürgen Kuczynski, Vielschreiber und Nestor der DDR-Wirtschaftswissenschaften, der im September 93 Jahre geworden wäre, war sich auch nach dem Ende der DDR ganz sicher: Der reale Sozialismus war nur ein "erster schlechter Versuch".Vorfreu

Jürgen Kuczynski, Vielschreiber und Nestor der DDR-Wirtschaftswissenschaften, der im September 93 Jahre geworden wäre, war sich auch nach dem Ende der DDR ganz sicher: Der reale Sozialismus war nur ein „erster schlechter Versuch“.

Vorfreude auf die nächste Wende

Jürgen Kuczynski kannte die Gesetze des Kapitals. In über hundert Büchern, ungezählten Artikeln und Kommentaren hatte sich der marxistische Ökonom mit ihm auseinandergesetzt. Es war eine Haßliebe, die ihn mit dem Objekt seiner Studien verband. Er kritisierte, verdammte, zuweilen lobte er ihn. Und wenn es darauf ankam, wußte er die Spielregeln des freien Marktes vortrefflich zu nutzen. Als die taz im Oktober 1991 um ein Interview bat, willigte er ein, ohne dabei das Finanzielle aus den Augen zu verlieren. Er wisse zwar, sagte er am Telefon, daß die Zeitung über wenig Geld verfüge. Das aber habe die taz nun einmal mit ihm gemeinsam, und so müsse er – „leider, leider“ – 200 Mark verlangen.

Jürgen Kuczynski wußte andererseits, was er seinen Gästen schuldig war. Die Summe, übergeben in einem weißen Briefumschlag, in den er gewissenhaft einen prüfenden Blick warf, war mehr als nur der Preis für ein Interview. Es war zugleich eine Eintrittskarte, die zum historisch-kulturellen Rundgang einlud. Zielsicher, als hätte er es schon tausendmal getan, führte der damals 87jährige den Reporter und den Fotografen durch sein eigenes Museum. In seinem Haus im Ostberliner Bezirk Weißensee, das er seit 1950 bewohnte, gab es dreizehn Räume voller Bücher. Regale, die bis kurz unter die meterhohen Decken reichten. Da stand eine Originalausgabe des Kommunistischen Manifests von 1848, von seinem Ururgroßvater in Paris erworben, da gab es auch ein Wertpapier, das Johann Wolfgang von Goethe als Geheimrat unterschrieben hatte.

Er erlebt den „letzten Hauch von Lenins Zeit“

Der Besuch folgte einem Ritual. Als die Führung beendet war, bat er kurzerhand an seinen Schreibtisch, machte es sich in seinem Sessel bequem, stopfte sich eine Pfeife, und die Geschichtsstunde konnte beginnen. Kuczynski, der Hausherr, duzte jeden, der jünger war. Und das waren, in seinem Alter, nun einmal fast alle, die zu ihm kamen. Interviews mit ihm waren daher auch keine Interviews im eigentlichen Sinne. Es waren Plaudereien, in denen sich seine Analysen über die Lage des Weltmarktes („Der Kapitalismus nähert sich der Barbarei“) mit Anekdoten aus seinem Leben vermischten. Wenn Kuczynski erzählte, dann war das, als säße man in einer Zeitmaschine: Als Jugendlicher hatte er die Großen der Arbeiterbewegung kennengelernt: Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Clara Zetkin, Karl Kautsky. 1930, nach dem Studium der Wirtschaftswissenschaften und einem USA-Aufenthalt, trat er in die KPD ein.

Von da an steht er, der Sohn aus einer jüdischen Gelehrten- und Bankiersfamilie, ganz im Dienste der Partei. Er habe kein Amt, „keine Funktion, keine Tätigkeit ausgeübt ohne Billigung oder Auftrag der Partei, es sei denn, die Anregung, der Auftrag kamen direkt aus der Sowjetunion“. 1930 reist er, voller Begeisterung, in die Sowjetunion. Lenin, den er Zeit seines Lebens verehren sollte, war da schon sechs Jahre tot, der Machtkampf vor der Zeit der großen Säuberungen hatte begonnen, aber noch nicht mit jener tödlichen Konsequenz, die später fast die gesamte alte Riege der Revolutionäre dahinraffen sollte. Kuczyinski erlebt den „letzten Hauch von Lenins Zeit“. Als er den deutschen Kommunisten Karl Radek fragt, warum er nur immer antisowjetische Witze erzähle, antwortet dieser: „Die verkaufen wir gegen Devisen an den Feind.“

Solche Art Witzeleien sind zu diesem Zeitpunkt noch möglich, später führen sie direkt in die Lubljanka, der Zentrale des sowjetischen Geheimdienstes. Stalin wird auch Radek hinrichten lassen. In den Zeiten der Säuberungen bleibt Kuczynski, wie die Mehrheit der Kommunisten, der Partei treu. Kritik, zaghafte, wird er erst Jahrzehnte später äußern, von den „Deformationen“ Stalins an der „großen Idee Lenins“.

„Dialog mit meinem Urenkel“: ein Aha-Erlebnis

1936 geht Kuczynski ins Londoner Exil – ein Glücksfall im nachhinein, denn wer weiß, wie es dem jungen Kommunisten in Moskau ergangen wäre. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges läßt er sich in der Sowjetischen Besatzungszone nieder. Wirtschaftsminister soll er werden, aber Moskau ist dagegen. Denn Kuczynski ist Jude, und ein Jude kann kein Wirtschaftsminister werden in einer Zeit, da in der Sowjetunion Stalin sich anschickt, die Juden des „Kosmopolitismus“ zu bezichtigen.

Die Lehre ist bitter. Kuczynski wird fortan in der zweiten Reihe agieren, in vielen Funktionen, allen voran aber als Leiter des Instituts für Wirtschaftsgeschichte an der Akademie der Wissenschaften, dem er bis 1968 vorsteht.

Kuczynski, das ist für die SED der Paradiesvogel großbürgerlicher Herkunft. Jahrelang ist er als Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften im Gespräch. Seine Reputation weiß er in der DDR auszunutzen, ohne die Grenzen jemals zu übertreten. Gewiß, er handelt sich unzählige Parteistrafen ein, weil er es wagt, mehr Effektivität, auch mehr Demokratie einzufordern. Für manche in der DDR war sein 1983 erschienenes Buch „Dialog mit meinem Urenkel“ ein Aha-Erlebnis. Da geißelte Kuczynski die Bürokratie und die fehlende Kritikfähigkeit, wie es später Gorbatschow tun sollte. Heute, im Rückblick, liest sich sein Buch rührend harmlos, spürbar in jeder Zeile ist sein Bemühen, dem Klassenfeind nicht allzuviel Munition gegen die Welt, die er damals für die bessere hielt, in die Hand zu geben.

Die Kunst, es sich nicht zu verscherzen, beherrschte Kuczynski meisterhaft. Bei Erich Honecker ging er aus und ein, schrieb für dessen Reden die Wirtschaftspassagen, die er anschließend in Artikeln selbst lobte. Die Wende, die in seinem Tagebuch nachzulesen ist, schilderte er merkwürdig unterkühlt. So, als hätte er schon lange geahnt, daß die DDR ihn auf jeden Fall nicht überleben würde. Es sei halt einer der „ersten schlechten Versuche“ gewesen. Er war sich ganz sicher, einen zweiten Anlauf zum Sozialismus werde es geben, sagte er im Oktober 1991 der taz: „Die neue Wende werde ich nicht mehr erleben, aber die Vorfreude auf sie kann ich schon heute haben.“ Severin Weiland

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