Jüdisches Leben in Deutschland: „Das war die Überlebenschance“
Die Nazis hatten die Familie von Grigori Pantijelew dezimiert. 1994 wanderte er nach Deutschland- er floh vor dem Antisemitismus in seiner sowjetischen Heimat. Die russischen Zuwanderer haben das jüdische Leben in Deutschland gerettet, sagt der Bremer Gemeindevorsteher.
taz: Spricht man in der jüdischen Gemeinde russisch oder deutsch?
Grigori Pantijelew: Wir haben als Amtssprache deutsch.
Und die gelebte Sprache?
Die Gemeinde lebt drei Sprachen. Die Sprache des Gottesdienstes ist Hebräisch, wir bieten auch Kurse dafür an. Übrigens auch Jiddisch-Kurse. Diejenigen, die aus der ehemaligen Sowjetunion gekommen sind, reden untereinander selbstverständlich russisch. Wir haben nur noch einige wenige Mitglieder, die kein russisch verstehen – so versuchen wir in den Veranstaltungen für eine Übersetzung in beide Sprachrichtungen zu sorgen. Vor 20 Jahren war es umgekehrt, dass wir ins Russische übersetzt haben. Die jüngere Generation spricht natürlich überwiegend deutsch. Der Wandel braucht zwei Generationen.
Und der Kindergarten?
Das ist für alle Kinder der Stadt eine offene Einrichtung, es wird die jüdische Tradition gepflegt und selbstverständlich deutsch gesprochen.
Was wäre aus der jüdischen Gemeinde geworden, wenn die Vereinbarung zwischen Kohl und Gorbatschow nicht die Ausreise der russischen Juden ermöglicht hätte?
Die Gemeinde würde nicht mehr existieren. Das war die Überlebenschance für das jüdische Leben in Deutschland. Die Gemeinde in Bremen hatte vorher vielleicht 120 Mitglieder.
Und jetzt?
Zeitweise waren es mehr als tausend, im Jahre 2005. Wir sind ein Teil Bremens und arbeiten an der Wiederherstellung des jüdischen Lebens. Aktuell befinden wir uns in einer finanziellen Krise: Für den Bau des neuen Friedhofs mussten wir alle Rücklagen verbrauchen, für die Fertigstellung der Trauerkapelle reichten die zugewiesenen Gelder des Senats nicht aus und wir sind jetzt gerade in schwierigen Verhandlungen darüber.
Wo liegt das Problem?
Der kontaminierte Boden und der hohe Grundwasserspiegel sind Verteuerungsgründe, die nicht vorsehbar waren. Trotzdem bin ich mir sicher, dass der Senat eine Lösung finden wird, um uns nicht im Regen stehen zu lassen. Wat mut, dat mut!
Die jüdische Gemeinde hat sich ja über tausende von Jahren erhalten über ihren strengen Ritus, sie hat sich nicht vermehrt wie etwa die antiken christlichen Gemeinden über den Kinderreichtum …
Jüdische Gemeinden missionieren nicht. Es geht nicht darum, durch Eintritte ihre Zahl zu erhöhen. Die jüdische Tradition ist da eher selbstgenügsam und selbstbewusst.
… und das haben die Juden, die aus der sowjetischen Diaspora kamen, verstärkt?
Die Juden, die aus der Sowjetunion gekommen sind, haben eine andere Vorstellung von jüdischer Identität. Die wenigsten haben in Russland als Juden gelebt. Es war nicht ihr Manko, sondern ihre Tragödie. Juden wurden in Russland seit je verfolgt. Die zaristischen Pogrome waren die ersten der Neuesten Zeit, hier wurden die unheilvollen „Protokolle der Weisen von Zion“ fabriziert. So darf es nicht wundern: Die Juden mussten in der bolschewistischen Revolution zunächst eine Befreiung sehen. Viele haben sich an der Revolution beteiligt. Der Preis war: Wir verzichten auf die jüdische Tradition und sind dabei, wenn der neue sowjetische Mensch entsteht. In der Stalinzeit kehrte der alte Antisemitismus zurück und die Juden bekamen zu spüren, was der real existierende Sozialismus bedeutet. Aber da war es zu spät, die eigene kulturelle Tradition wurde verleugnet. Als das Sowjetimperium zerfiel, erstarkte der Antisemitismus im Alltag. Viele wollten ausreisen. Inzwischen gab es viele gemischte Familien, deren Kinder nach dem sowjetischen Gesetz als Juden galten, egal ob der Vater oder die Mutter jüdisch waren. Viele sind somit nicht Juden im Sinne des Judentums, sie wurden aber ebenso von dem Antisemitismus betroffen.
Entscheidend ist, dass die Mutter Jüdin ist?
So ist es. Es sind viele Juden nach Deutschland gekommen, denen dann die jüdische Gemeinde hier gesagt haben: Ihr könnt nicht Mitglied werden, ihr seid gar keine Juden.
Wäre es nicht nett gewesen, wenn die jüdischen Gemeinden sie aufgenommen hätten?
Nach dem halachischen Gesetz geht es nicht. Unsere Lösung ist, dass wir eine assoziierte Mitgliedschaft ermöglichen. Sie können sich am Gemeindeleben beteiligen. Unser Rabbiner hat erreicht, dass sie auf dem neuen jüdischen Friedhof in Bremen neben ihren Familienangehörigen begraben werden dürfen. Das musste der Rabbiner beim Oberrabbinat Israels erlauben lassen – für die bremische Gemeinde und gegen den Widerstand mancher Kollegen.
Diese Bindung an viertausend Jahre alte Traditionen ist die Stärke der jüdischen Tradition, aber es erscheint auch ein wenig starrsinnig.
Das Judentum lebt als Religion und als Volk. Es gibt die alten Riten, die beibehalten werden, aber die werden flexibler gelebt als man das vielleicht von außen sehen kann. Es gibt eine Gruppe von frommen Juden, die den harten Kern des Judentums bilden und die Tradition weiter pflegen, die werden von den anderen, den säkularen oder liberalen Juden respektiert. Die orthodoxen sind diejenigen, die die Tradition weitergeben. Nur mit diesem starken Willen konnte das Judentum in den schwierigsten Phasen der Geschichte überleben. Für mich ist Phönix ein passendes Symbol dafür.
Sie selbst sind einer von den Russen, in denen Pass stand, sie seien Juden?
Mein Vater ist als zehntes Kind auf die Welt bekommen, da war das jüdische Leben noch sehr präsent. Ich habe als Kind die Pessach-Feste miterlebt, das war sehr schön, ich wusste aber nicht, was das ist, das wurde mir nicht erklärt. Meine Eltern wollten meine Kindheit damit nicht belasten. Dass ich ein Jude bin, erfuhr ich als Schimpfwort in der Schule, ich war vielleicht acht. Ich kam dann nach Hause und habe gefragt, ob mein Opa auch ein Jude sei. Erst dann haben meine Eltern mir davon erzählt. Die erste richtige Begegnung damit, was es heißt, Jude zu sein, hatte ich bei der Aufnahme ins Moskauer Konservatorium, da war klar, dass ich weniger Rechte hatte als die anderen. Mein Vater pflegte immer zu sagen, dass ich zwei Köpfe klüger sein sollte als die anderen. Als ich 19 Jahre alt war, wurde ich angesprochen, warum ich nicht in die Synagoge gehen würde. Ich wusste, dass der KGB sehr genau überwacht, wer die Moskauer Synagoge betritt. Die jüdische Tradition zu leben bedeutet im Zweifelsfall Sibirien. Ich wollte mich nicht gleich als Dissident definieren, ich wollte ein einigermaßen normales Berufsleben. Ende der 80-er Jahre wurde der Antisemitismus dann unerträglich. Ich habe zwei Freunde verloren, die ermordet wurden, nur weil sie jüdisch aussahen.
Woher wussten die achtjährigen Schulkameraden, dass Sie Jude waren?
Man unterschied uns vom Äußeren. Das können die Deutschen von heute gar nicht, vielleicht eher die Araber in Berlin. Kurz vor meiner Ausreise nach Deutschland stand ich in der U-Bahn, da lächelte mich eine junge Frau an und sagte: Ich habe so lange kein jüdisches Gesicht gesehen. Ich wusste nicht, ob ich darüber lachen sollte oder traurig sein. Ich wollte diese rassistische Ausgrenzung nicht, ich wollte ein normales Leben führen.
Konnten Sie deutsch, als sie 1994 nach Bremen kamen?
Dank meiner Arbeit als Musikwissenschaftler konnte ich deutsch zumindest lesen. Ich hatte eine wunderbare Lehrerin am Konservatorium, die deutsch perfekt beherrschte, sie war 1937 für 17 Jahre als „Volksfeindin“ ins Lager geschickt worden. Da ich in Moskau einen unbekannten Brief von Johann Sebastian Bach entdeckt hatte, wurde ich 1985 nach Leipzig zu einem musikwissenschaftlichen Kongress eingeladen. Deutsch zu sprechen habe ich erst hier gelernt. Die Entdeckung der jüdischen Tradition war für mich dann auch erst in Deutschland möglich geworden, hier in der jüdischen Gemeinde.
Sie haben dann hier doch nicht ein normales Leben begonnen, sondern sind hier stellvertretender Gemeindevorstand geworden.
Wäre es denn normal, wenn ich meine jüdische Identität leugnen würde? Nein, das war für mich so etwas wie eine Verpflichtung. Ich konnte nach Deutschland kommen und nach Bremen dank dieser jüdischen Gemeinde. Dafür bin ich dankbar und möchte etwas für die Gemeinde tun. Ich habe zunächst versucht, mich in meinem Beruf zurechtzufinden in der Stadt. Ich werde wohl nicht mehr so fromm werden wie mancher das wünscht, ich sehe es aber als meine Aufgabe an, denen, die es wollen und können, zu ermöglichen, fromm zu werden. Das ist mein Ehrenamt. Mein Vater war das zehnte Kind. Vierzig Pantijelews sind in der Shoah in Weißrussland ermordet worden, mein Vater ließ deren Namen in Yad Vashem eintragen. Diejenigen, die nach Australien oder in die USA ausgewandert sind, haben den ursprünglichen hebräischen Namen Paltiel wieder angenommen. So bin ich der zweitletzte Pantijelew.
Sie betonen die Rolle der Orthodoxen für die Tradition des jüdischen Lebens – in der Politik in Israel sind die Orthodoxen doch eher ein Problem, weil sie nicht kompromissfähig sind. In Deutschland werden sie als rechtsradikal interpretiert.
Wissen Sie, ich könnte jetzt sagen: Die Juden waren schon immer ein Problem. Diejenigen, die darauf bestehen, dass sie ultra-orthodox sind, sind sehr rigoros in ihrem Aussehen und ihrem Benehmen. Das sind aber nur Teile der bunten Gesellschaft. Das Lob der Orthodoxie kann man nur aus der Geschichte begreifen. Die Orthodoxen sind die, die für die Aufrechterhaltung der jüdischen Tradition sorgen. Das ist deren Mission. Nur in Israel können sie leben, wie sie es wünschen. Die israelische Gesellschaft entscheidet in einer demokratischen Wahl, wie viel Gewicht sie haben sollen.
In der Diskussion in Deutschland werden die kritischen Äußerungen stärker. Eine kompromissfähigere israelische Politik würde mehr internationale Unterstützung bekommen.
Ich erlebe derzeit eine Obsession in der deutschen Gesellschaft, sich mit der israelischen Politik zu beschäftigen. Das ist nicht normal. Diese Diskussion wird auch sehr schnell emotional. Wenn Sie die Leserbriefe und die Internet-Foren ansehen, wissen Sie, wie diese Diskussion alte Ressentiments aufwühlt. Die Gesellschaft in Israel wird ihre Probleme selbst lösen. Zuletzt hat sogar der amerikanische Präsident Obama erklärt, er wisse es besser, was für Israel gut ist. In Deutschland laufen mit einer erstaunlichen Regelmäßigkeit Debatten darüber, neulich wollte auch der Deutsche Bundestag einstimmig Ratschläge erteilen. Was mich dabei stört, ist die Disproporz: Ignatz Bubis war so gut wie allein im Streit mit Martin Walser, Henryk Broder muss sich so gut wie allein im Streit mit Jacob Augstein behaupten. In der Beschneidungsdebatte wurden wahrlich schlimme Schleusen eröffnet. Ist das nicht zu viel Beschäftigung mit dem Jüdischen?
Dass Deutsche sich mehr mit Israel beschäftigen als mit Mali, das ist doch nachvollziehbar aufgrund der historischen Zusammenhänge.
Die Diskussion bietet immer noch die Projektionsfläche für die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit. Die Diskussion entscheidet immer noch zwischen dem guten und dem bösen Juden, wie auch zwischen den toten und lebenden Juden deutlich unterschieden wird. Ist denn das normal?
Sie fänden es besser, wenn sich die jüngere Generation in Deutschland nicht mehr für Israel interessieren würde als für Mali?
Das wäre ein Zeichen der Normalität.
Sie sind von Beruf Musiker?
Hauptsächlich dirigiere ich, aber darüber hinaus freue ich mich über eine methodische Erfindung, an der ich jahrelang bastelte und jetzt an der Uni sowie an verschiedenen Seminarorten anbiete. Es geht darum, Menschen ohne Vorkenntnisse mit den Geheimnissen der Musik vertraut zu machen, ohne auf inhaltliche Tiefe zu verzichten. Im musikwissenschaftlichen Milieu reden wir untereinander ein Kauderwelsch ohne Musik je zu hören, als Musikkritiker produzieren wir sinnlose Worthülsen, und der Musikliebhaber wird sich überlassen in seiner Unmündigkeit. Irgendwann hatte ich das satt. Mein Wunsch ist es, die Musikkenntnisse in einer allgemeinzugänglichen Sprache zu übersetzen, so dass Profis wie Liebhaber den Zugang zum Eigentlichen der Musik finden. Erstaunlich, aber das geht. Ich würde sehr gerne das Resultat, ich nenne das angewandte Musikologie, in die Schulen tragen.
Grigori Pantijelew ist 1958 in der Sowjetunion geboren, er studierte und promovierte am Moskauer Konservatorium, arbeitet heute in Bremen als Dirigent und Musikdozent
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