Jüdische Gemeinden in Ungarn: Die Vorsicht der Juden von Budapest
Vor einem Jahr wurde er nahezu täglich angepöbelt, erzählt ein Rabbiner in Ungarn. Das hat nachgelassen. Die Rechten haben jetzt andere Ziele.
BUDAPEST taz | "Kommen Sie zum Sushi-Abend?" Alles Mögliche würde man in einer orthodoxen Synagoge erwarten, aber sicher kein Sushi-Buffet. Den Sushi-Abend gibt es tatsächlich. Allerdings hat die Assistentin von Rabbiner Slomó Köves den Besucher verwechselt. Der Rabbiner komme gleich. Um das Warten zu verkürzen, serviert sie Kaffee und koscheres Gebäck, keinen Fisch.
Die Synagoge von Óbuda, ein klassizistisches Gebäude, dessen Fassade eher an einen griechischen Tempel denn an ein jüdisches Gotteshaus gemahnt, dient erst seit kurzem wieder ihrer ursprünglichen Bestimmung. Schon erscheint Slomó Köves, er sieht aus, wie man sich einen Rabbiner vorstellt - roter, etwas schütterer Bart, schwarzer, breitkrempiger Hut. "Hier war während der kommunistischen Zeit ein Fernsehstudio", beginnt er. Köves ist 31 Jahre alt, hat in Tel Aviv und Paris studiert, war in den USA.
Antisemitismus habe er in Paris stärker erlebt als in Budapest, meint er und kommt auf die Lage nach dem Rechtsruck in Ungarn zu sprechen, ausgelöst durch den Regierungsantritt der Fidesz. Die rechtspopulistische Bewegung hat unter ihrem Vorsitzenden, dem heutigen Ministerpräsidenten Viktor Orbán, bei den Wahlen vor einem Jahr einen deutlichen Sieg errungen und verfügt seitdem über eine Zweidrittelmehrheit im Parlament.
Antisemitischer Hass
Führende Fidesz-Leute hatten vor der Wahl Stimmung gemacht gegen Kapitalisten, Kommunisten und Juden. Die drei Gruppen werden im antisemitischen Diskurs gern zu einem Hassobjekt verschmolzen. Wer die Juden attackieren will, schmäht oft die Sozialisten oder die Kapitalisten - und jeder versteht, wer wirklich gemeint ist. "Das war vor den Wahlen viel schlimmer", sagt Rabbiner Köves. Und auch Péter Feldmájer, Präsident des Vereins der Ungarischen Jüdischen Gemeinden, stimmt zu. Seitdem Orbán regiert, habe sich das Klima spürbar verbessert.
Wird sich die Verankerung von "Ungarntum" und "Christentum" in der neuen Verfassung auf die Juden auswirken? Antisemitismus als politische Waffe ist jedenfalls kein Selbstläufer mehr. Die mit antijüdischen Gefühlen operierende Partei für Wahrheit und Leben flog schon vor Jahren aus dem Parlament. Restbestände gingen in der Jobbik auf, die deutlich aggressiver ist. Der Jüdische Europakongress in Paris sieht auch in ihr eine antisemitische Bedrohung, doch Jobbiks Ressentiment zielt in erster Linie auf die Roma.
Rabbiner Köves erzählt, er sei früher fast täglich auf der Straße angepöbelt oder gar bespuckt worden. Auch andere Gemeindemitglieder hätten ihm immer wieder Ähnliches berichtet. Doch seit Fidesz regiert, sei er nicht mehr behelligt worden, versichert Köves. Warum? Fidesz gebe sich jetzt staatstragend und hat auch die Jobbik ausgebremst. "Es ist erstaunlich, wie sich die Politik von oben auf das Verhalten des kleinen Mannes auf der Straße auswirkt."
Jobbik hat sich allerdings nicht vom Nachrichtenportal "Kuruc.info" distanziert, wo nicht nur der Holocaust infrage gestellt, sondern auch über eine "jüdische Weltverschwörung" schwadroniert wird. Dazu gibt es die Rubriken "Zigeunerkriminalität" und "Judenkriminalität".
Péter Feldmájer will über Premierminister Viktor Orbán kein böses Wort verlieren. Kein Wunder, schließlich wird seine Gemeinde jährlich mit stattlichen Subventionen gefördert - für Schulen, Kindergärten, Friedhöfe, Kultureinrichtungen und Synagogen, darunter für die größte Synagoge Mitteleuropas im Zentrum Budapests. An dieses Abkommen, in dem auch die Restitution herrenlosen jüdischen Vermögens beschlossen wurde, ist jede Regierung gebunden.
Kaum mehr als 100.000 Juden leben heute in Ungarn, weniger als ein Prozent der Bevölkerung. Dennoch ist die jüdische Gemeinde von Budapest eine der größten außerhalb Israels.
Als die Synagoge von Rabbiner Slomó Köves 1821 gebaut wurde, durften jüdische Gebetshäuser noch nicht in der Stadt errichtet werden. Doch den Bezirk Óbuda am rechten Donauufer hat die Hauptstadt längst erreicht. "Als ich vor einem Jahr erfuhr, dass sie zum Kauf angeboten wird, habe ich sofort begonnen, Geld zu sammeln", erzählt der Rabbiner. In kürzester Zeit habe er um die 300.000 Euro in der Kasse gehabt. Nicht nur Juden hätten sich an der Sammlung beteiligt, betont Köves. Obwohl die Arbeiten noch nicht abgeschlossen sind, wurde die Synagoge im September 2010 eröffnet.
Wenige Städte können sich so vieler Synagogen rühmen wie Budapest. Doch die sind keineswegs gefüllt, klagt Köves. Nicht mehr als fünf Prozent derer, die sich in Budapest zum jüdischen Glauben bekennen, gingen regelmäßig in die Synagoge. Den Prozentsatz der Orthodoxen, die koscher essen und im Alltag die Glaubensregeln beachten, schätzt er auf unter ein Prozent.
Erst Ungarn, dann Juden
Die größte jüdische Gruppe sind die sogenannten Neologen - eine Strömung, die sich im Gefolge des Ausgleichs 1867 entwickelt hat, als Ungarn in der k. u. k. Monarchie zum eigenständigen Königreich wurde. Neologe Juden sind im Gegensatz zu den Orthodoxen aufgeschlossen für Modernisierung und Reformpolitik. Während des Gottesdienstes wird auch Orgel gespielt, Männer und Frauen beten gemeinsam. Neologen betrachten sich in erster Linie als Ungarn. Das Jüdische ist erst in zweiter Linie identitätsstiftend, gesprochen wird Ungarisch, nicht Hebräisch oder Jiddisch. An die Kleiderregeln fühlen sie sich nicht gebunden.
Um 1900 lebten in Großungarn fast eine Million Juden. In der Hauptstadt registrierte die Volkszählung 1910 23 Prozent jüdische Bevölkerung, weswegen Wiens antisemitischer Bürgermeister Karl Lueger Budapest als "Judapest" verspottete. Das jüdische Viertel im VII. Bezirk war damals das weltweit größte.
Zehn Jahre später, nachdem Ungarn durch den Friedensvertrag von Trianon zwei Drittel seines Territoriums verloren hatte und auf seine heutige Größe geschrumpft war, befanden sich Börse, Banken und Industrie fest in jüdischer Hand. 60 Prozent der Ärzte, jeder zweite Anwalt und ein Drittel der Journalisten und Verleger bekannten sich zum jüdischen Glauben. Die Juden waren die größte und sichtbarste Minderheit.
Wegen ihres Erfolgs wuchs der Antisemitismus. So entfesselte die Armee unter Reichsverweser Miklós Horthy eine Serie von Pogromen gegen Juden und Kommunisten, die als "Weißer Terror" in die Geschichte einging. Ab 1938 verabschiedete Horthy eine Reihe von antijüdischen Gesetzen, die sich an den Nürnberger Rassegesetzen orientierten. Allerdings widersetzte sich der ehemalige k. u. k. Offizier, der sich zum Antisemitismus als politische Leitlinie bekannte, lange Zeit der von Nazi-Deutschland geforderten Judenvernichtung.
Erst mit der deutschen Besetzung Ungarns 1944 begann die Massendeportation zu Zwangsarbeit und nach Auschwitz. Horthy, unterstützt von Papst Pius II., König Gustav V. von Schweden und Franklin D. Roosevelt, erwarb sich im letzten Moment Verdienste um die jüdische Gemeinde von Budapest. Während aus der Provinz bereits Hunderttausende Juden in die Vernichtungslager deportiert worden waren, stoppte er den für Anfang Juni 1944 vorgesehenen Transport. Horthy wurde wenig später weggeputscht und mehrere tausend Juden in und um Budapest massakriert, bevor die Rote Armee im Januar 1945 einrückte und das Ghetto befreite.
Während der kommunistischen Herrschaft litten Juden zwar keine Verfolgung, doch die Ausübung ihrer Religion war nicht gern gesehen. Und so spielten beim Aufstand 1956 auch die Juden eine führende Rolle. Nach der Niederschlagung des Aufstandes emigrierten viele, und so ist es fast ein Wunder, dass nach der Wende noch eine so starke jüdische Gemeinde zu neuem Leben erwachen konnte.
Das jüdische Viertel wirkt heruntergekommen, viele Häuser sind baufällig. Die berühmte Rumbach-Synagoge, 1872 erbaut nach den Plänen des Wiener Gründerzeitarchitekten Otto Wagner, wurde erst vor wenigen Jahren zurückgegeben. Die Restaurationsarbeiten im Kuppelbau sind noch im Gange. Trotzdem finden hier schon gelegentlich Veranstaltungen statt.
Die Suche nach Tradition
Jüdisches Leben in Budapest ist aber nicht nur nostalgisch. Dafür sorgt der Jugendverein Hashomer Hatzair, der weniger den religiösen als den kulturellen Traditionen verhaftet ist. Anna Forgács, die jahrelang eine Jugendgruppe leitete, bezeichnet sich nicht als religiös, dennoch sagt sie: "Religion ist die einzige Sache, die Bestand hat und sich nicht ändert." Sie ist an der Organisation von Musikfestivals und Lagern im Sommer beteiligt und bemüht sich mit einer Gruppe von Aktivisten auch um die Erhaltung des jüdischen Viertels. Die Geschichte von dreißig Häusern wurde aufgearbeitet und als mp3-Datei auf einen Online-Führer gespeichert, den man per Handy abrufen kann.
Anna Forgács will verhindern, dass weitere Häuser in den Händen von Spekulanten enden, die sie dann niederreißen oder kommerziell nutzen: "Diese Gebäude sind zu wertvoll von Bau und Geschichte. Wir dürfen nicht zulassen, dass die Stadt die Häuser verkauft." Bei so einem Engagement muss sich die Gemeinde nicht ums Überleben sorgen.
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