Judenverfolgung: Massenhinrichtung für einen Laib Brot
Vor genau 500 Jahren wurden 38 Juden wegen angeblicher Hostienschändung zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt.
Blumen sind zu vergänglich. Darum haben die Besucher viele kleine Steine auf den grauen Gedenkstein gelegt, der unscheinbar zwischen den Häuserblocks an der Mollstraße steht. Er erinnert an ein grausames Ereignis vor genau 500 Jahren. "Sie wurden zusammengepfercht und auf einem dreistöckigen Gerüst verbrannt", erzählt Hermann Simon, Direktor der Stiftung Neue Synagoge Berlin. "Und hier, irgendwo in der Nähe dieses Steins, sind sie damals verscharrt worden."
Mit einer Kranzniederlegung erinnerte André Schmitz der Massenhinrichtung von 38 Juden aus der Mark Brandenburg. Am 19. Juli 1510 wurden sie in Schauprozessen wegen angeblichen Hostienfrevels und Ritualmorden schuldig gesprochen und auf dem heutigen Strausberger Platz verbrannt.
Die Vorgeschichte: Im Februar 1510 war in die Kirche des havelländischen Dorfes Knoblauch eingebrochen worden. Das Diebesgut bestand aus einer vergoldeten Monstranz und einem goldenen Kästchen, das zwei geweihte Hostien enthielt - also zwei geweihte Brotlaibe. Der Dieb, ein christlicher Kesselflicker, wurde gefasst. Zunächst gestand er, die beiden Laibe gegessen zu haben; später gab er unter Folter an, einen der Laibe an den Spandauer Juden Salomon verkauft zu haben.
Salomon wurde daraufhin beschuldigt, die Hostie gemeinsam mit seinen Glaubensbrüdern mit Messern geschändet zu haben. In wenigen Tagen wurden über 100 Juden aus der Brandenburger Mark zusammengetrieben und in Berlin eingekerkert. Über 50 wurden schuldig gesprochen, zehn von ihnen starben vermutlich schon während der vorangegangenen Folter. Zwei der beschuldigten Juden, die auf Drängen ihrer Folterer zum Christentum konvertierten, ereilte laut Simon ein anderes, allerdings kaum weniger grausames Schicksal: "Sie wurden zum Tod durch das Schwert begnadigt." Der Dieb selbst wurde durch die Stadt geschleift und auf einem eigens für ihn errichteten Scheiterhaufen verbrannt.
Seit dem Jahre 1215 galt die Hostienschändung als schweres religiöses Verbrechen, das die Verfolgung besonders von Juden, seltener auch von Hexen auslöste und rechtfertigte. Die sogenannte Transsubstantiationslehre besagte, dass sich das Brot, das der Priester bei der Eucharistie geweiht hat, in den realen Leib Christi verwandelte.
Das angeblich religiöse Verbrechen wurde zum Vorwand zu einer weitreichenden Verfolgung der Juden in der Region: Die Familien der Opfer wurden aus der Mark Brandenburg vertrieben. Erst 1539 durften sie sich wieder ansiedeln, als bekannt wurde, dass der Hostiendieb in der Beichte zugegeben hatte, den Juden Salomon zu Unrecht beschuldigt zu haben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!