Juden beantragen portugiesischen Pass: Schalom Lisboa!
Sephardische Juden wurden einst aus Portugal vertrieben. Viele Nachfahren beantragen jetzt die Staatsbürgerschaft, etwa wegen des Brexit.
Wir leben in England und geflohen sind wir aus den Niederlanden. Fast alle meine Vorfahren wurden im Holocaust ermordet. Alle, bis auf Nan, die es rechtzeitig aus Amsterdam raus nach Großbritannien geschafft hat.“ Mit dieser Familiengeschichte wuchs Anneke Scott auf.
In ihrer Heimat Birmingham durfte über die jüdische Vergangenheit der Familie nicht oft gesprochen werden. Das Trauma war zu groß. Stattdessen sagte Scotts Oma manchmal zu ihrer Enkelin: „Eigentlich kommen wir ja aus Portugal.“ Für das Mädchen war das verwirrend, aber eigentlich auch nicht weiter wichtig. Für sie zählte immer ihr weinroter Pass. Engländerin, Niederländerin, meinetwegen Portugiesin. Das war ja alles dasselbe.
Wenn kein Wunder geschieht, hat Anneke Scott jedoch bald wieder einen marineblauen Pass und ist auf dem Papier ausschließlich Britin. Damit hat sie wie viele Landesgenossen ein Problem. Die heute erwachsene Künstlerin ist eine bekannte Hornistin und berufsbedingt ständig auf Reisen. Sie hat keine Lust darauf, Visaanträge zu stellen und sie sieht es nicht ein, das Symbol ihrer europäischen Identität aufzugeben. Nur: wie dem Brexit entkommen?
Einst Nelkenhändler in Lissabon
Anfang 2017 rief Scotts bester Freund an und erzählte ihr von einem Bericht über ein Gesetz, den er in seiner spanischen Heimat gelesen hatte. In der Zeitung stand, dass Ausländer die spanische oder portugiesische Staatsbürgerschaft beantragen könnten, wenn sie nachweislich von den Juden abstammen, die ab dem Ende des 15. Jahrhunderts von der iberischen Halbinsel vertrieben wurden. Damals wurden die Sephardim von den katholischen Königen Ferdinand und Isabella vor die Wahl gestellt: Entweder ihr konvertiert oder ihr müsst das Land verlassen. Viele entschieden sich für das Exil, andere wiederum blieben und wurden zwangskonvertiert – um später Opfer der Inquisition zu werden.
In Scotts Kopf tauchte das selbstsichere Gesicht ihrer Großmutter auf. Überstürzt rief sie ihre Mutter an und fragte: „Sag mal, stammen wir eigentlich wirklich aus Portugal, oder hat Oma immer nur so dahergeredet?“ Sie hatte Glück. Wo andere Anwärter monatelang Archive wälzen und Dokumente beantragen müssen, um ihre Abstammung zu belegen, hatte Scotts Mutter bereits viele Jahre als Hobby-Stammbaum-Forscherin Dutzende Beweise zusammengetragen.
Die Ahnen der Familie Scott waren einst als Nelkenhändler aus Lissabon nach Amsterdam gekommen, um dem drohenden Tod zu entgehen. Die Ehe-Bescheide und Geburtsurkunden lagen fein säuberlich gestapelt zur Abholung bereit. Für Scott stand der Entschluss sofort fest. „Im Dezember werde ich wissen, ob ich Portugiesin werden darf“, erzählt sie so aufgeregt, dass sich ihre Stimme überschlägt.
Das Recht der Sephardim-Nachfahren auf portugiesische Staatsbürgerschaft durchzusetzen, war schwer. „Es wurde schon in den achtziger Jahren in Portugal diskutiert“, berichtet Dr. Michael Rothwell von der jüdischen Gemeinde in Porto. „Seitdem haben die Politiker darüber geredet, dass man Wiedergutmachung leisten muss, auch wenn sie spät kommt.“
Den Katholizismus de facto privilegiert
Erst 2001 wurde das Gesetz zur religiösen Freiheit in Portugal erlassen, ein wichtiger Schritt zur Gleichberechtigung der Konfessionen in einem Land, das zuvor de facto den Katholizismus privilegiert hatte. Das neue Gesetz bereitete den Weg zum eigentlichen Gesetzesentwurf, der schließlich von Maria de Belém Roseira, einem Mitglied der sozialdemokratischen Partei Partido Socialista in Zusammenarbeit mit den jüdischen Verbänden des Landes dem Parlament vorgeschlagen wurde. Das Gesetz wurde 2013 einstimmig verabschiedet und trat 2015 in Kraft. Seitdem sind Tausende Anträge im südeuropäischen Land eingetroffen. Das Verfahren verläuft dabei in zwei Schritten: Nur wenn der Anwärter von den jüdischen Gemeinden als Sephardim-Nachfahre anerkannt wurde, kann er den offiziellen Antrag auf Staatsbürgerschaft bei der portugiesischen Regierung stellen.
Ab diesem Punkt kommt Rita Jardim ins Spiel. Die portugiesische Anwältin vertritt im Moment über 70 Anwärter, die auf Grundlage ihrer sephardischen Abstammung eingebürgert werden wollen. „Meine Klienten haben drei verschiedene Motivationen für ihren Antrag“, erklärt sie am Telefon. Für die erste Gruppe sei es ein rein symbolischer Akt, um ihre jüdischen Vorfahren zu ehren. Viele davon stammen laut Jardim aus den USA. Die zweite Gruppe kommt aus politisch instabilen Ländern wie Israel oder Südafrika und betrachtet den europäischen Pass als Investition in die Sicherheit und Zukunft ihrer Familie. Die dritte Gruppe bestünde schließlich aus denjenigen, die aus europäischen Staaten kommen und nicht nur einen nationalen Pass besitzen wollen.
Zu diesen Bewerbern gehört Anneke Scott. Die ersten Anträge kamen laut Michael Rothwell aus Ländern, in denen es noch eine starke sephardische Diaspora gibt, etwa die Türkei und Israel. Aber es kommen mittlerweile auch immer mehr Bewerbungen aus Staaten, in denen Juden Angst vor zunehmenden Antisemitismus haben. „Viele Juden in Frankreich fühlen sich heutzutage nicht mehr sicher. Deshalb ist ein portugiesischer Pass für sie eine gute Option, denn hier in Portugal haben wir keinen Antisemitismus“, sagt Rothwell stolz. Auf die Frage, ob Judenfeindlichkeit nicht vorprogrammiert sei, sobald es wieder eine starke jüdische Präsenz in Portugal gebe, seufzt Dr. Rothwell. „Antisemitismus wird es immer geben, das stimmt. Aber wir wollen unser Bestes tun, um ihn in Portugal zu verhindern.“
In Portugal lebten vor dem Gesetz laut der letzten Volkszählung nur noch etwa 3.000 Juden bei über 10 Millionen Einwohnern. Nun sind seit 2015 offiziell bereits über 2.000 Neuportugiesen über das neue Verfahren an die Staatsbürgerschaft gelangt. In der Jüdischen Allgemeinen stellte Kevin Zdiara die Frage, ob es bei dem Gesetz bei allem idealistischen Anstrich nicht vor allem um den Wunsch nach wirtschaftlichen Investitionen in Portugal ginge.
Keine Verpflichtungen durch den Pass
Schließlich sei die portugiesische Ministerin für Tourismus in die USA gefahren, um dort gezielt in der jüdischen Community für Anlagen in Portugal zu werben. „Ich kenne diese Vorwürfe“, sagt Jardim. „Ich kann sie abweisen. Es ging nie um jüdisches Geld, sondern um eine historische Verantwortung“, sagt sie entschieden. Die erfolgreichen Bewerber müssten außerdem weder Steuern in Portugal zahlen, noch hätten sie sonst irgendwelche Verpflichtungen, nachdem sie ihren Pass erhalten haben.
Im Nachbarland dagegen wird von den Anwärtern unter anderem verlangt, dass sie Castellano lernen müssen, wenn sie spanische Staatsbürger werden möchten. Dafür ist der Antrag sowohl in Spanien, als auch in Portugal eine teure Odyssee. Die Gesamtkosten des Prozesses schätzt Jardim auf 2.000 bis 2.500 Euro. In einzelnen Fällen, bei denen die Anwältin die Herkunftsgeschichte und die Beweggründe der Bewerber besonders faszinierend findet, verzichtet sie auf ein Honorar.
Die Gebühren für die Beschaffung und Übersetzung der Dokumente, den Beitrag von 250 Euro für die Verwaltungskosten der staatlichen Behörden und alle anderen Nebenkosten kann sie jedoch niemandem abnehmen. Dazu kommt noch das Kleingedruckte bei den jüdischen Gemeinden. Die Bewerber werden dort ermutigt, für den Verwaltungsaufwand ihres Antrags Geld zu spenden. „Die empfohlene Summe, sagte man mir, liegt bei 500 Euro“, erzählt Anneke Scott. Dafür müssen die Familienangehörigen, die nach dem Erstbewerber ebenfalls einen Antrag einreichen, nur noch einen Bruchteil davon zahlen.
Die Rückkehr aus der Diaspora
Auf Nachfrage bei Rothwell von der jüdischen Gemeinde in Porto, ob es sich bei der Spende wirklich um eine freiwillige Geste handele, erklärt er: „Es ist nicht verpflichtend. Wenn uns ein Bewerber erklärt, dass er nicht in der Lage ist, etwas zu spenden, dann muss er das nicht und wir werden seinen Antrag genauso bearbeiten wie den eines anderen.“ Das Geld aus den Spenden werde zu großen Teilen für wohltätige Zwecke eingesetzt, aber auch, um das „jüdische Leben in Portugal wieder zu ermöglichen“. Neue Sitzreihen in den Synagogen, koschere Läden, mehr Geld für die Ausbildung von Rabbinern. Darum geht es zum Beispiel. Am wichtigsten sei ihm, dass die Beziehungen der sephardischen Diaspora und Portugal wiederhergestellt werden. „Durch das Gesetz gibt es immer mehr Menschen, die hierher reisen, die hier Geschäfte machen und die sich mit unserer Kultur vertraut machen. Alle Seiten haben etwas davon.“
Anneke Scott möchte ein Dankeskonzert in Lissabon veranstalten, wenn sie ihren Pass endlich in den Händen hält. Bis dahin lernt sie tatsächlich Portugiesisch – einfach aus Interesse und auf sehr europäische Weise: „Ich bin im Moment beruflich in Frankreich, deshalb nehme ich via Skype Unterricht bei einer Portugiesin, die in Wirklichkeit nur ein paar Straßen weiter von meinem Zuhause in London am Laptop sitzt.“
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