Journalistin über Proteste im Libanon: „Faktisch und objektiv berichten“
Die unabhängige Newsseite „Daraj“ berichtet im Libanon. Die Gründerin Alia Ibrahim ist überzeugt, dass der friedliche Protest im Land eine Zukunft hat.
taz: Frau Ibrahim, seit Wochen wird im Libanon demonstriert, wie schon 2015. Was ist das Neue jetzt?
Alia Ibrahim: Das Land hat schon in den letzten Jahren große Proteste erlebt, aber die Demonstrationen jetzt sind eine ganz andere Kategorie. Der unmittelbare Auslöser war eine von der Regierung geplante Steuer auf WhatsApp-Anrufe. Als Antwort darauf wurden in verschiedenen Teilen des Landes Straßen blockiert. Völlig neu dabei ist, dass die Proteste alle Landesteile erfasst haben. Auch jene, in denen die irannahe Hisbollah die dominante Kraft ist.
Als Journalistin berichten Sie viel über die Beteiligung von Frauen an den Protesten. Warum?
Frauen sind sehr präsent bei den Protesten. Sie stehen mit in der ersten Reihe. Die Mikrofone bleiben überwiegend in ihren Händen. Eine Gruppe, die „Frauen an vorderster Front“ genannt wird, hat irgendwann angefangen, sich an den Händen haltend einen Kreis um die Demonstrationen zu bilden mit dem Ziel, die Proteste friedlich zu halten. Zum ersten Mal in der Geschichte des Landes bringen sich Frauen so sichtbar ein.
Wie bewerten Sie die internationale mediale Berichterstattung über die Proteste?
Es wird zwar berichtet, aber insgesamt recht wenig. Demonstrationen und Unruhen gibt es ja derzeit an vielen Orten. Hongkong, Chile, Katalonien, aber auch im Irak und in Syrien. Das nimmt viel Platz in den Medien ein. Aus meiner Arbeit als Journalistin weiß ich natürlich, dass Nachrichtenmedien dabei schnell in ihr jahrzehntelang gepflegtes Mantra verfallen: „If it bleeds, it leads.“
begann ihre journalistische Karriere 1996 beim „Daily Star“ in Beirut und arbeitete seitdem für internationale Medien wie „Al Arabiya“ und die „Washington Post“.
Und im Libanon ist es zu friedlich?
Wenn gewalttätige Auseinandersetzungen das Einzige sind, was es auf die Titelseiten schafft, wird es für gewaltfreie Aktivisten schwieriger zu argumentieren, dass ihr Widerstand eine mächtige Option ist. Dass es überhaupt internationales Interesse an den friedlichen Protesten im Libanon gibt, zeigt aber, dass gewaltlose Proteste durchaus funktionieren können.
Sie haben eine eigene Nachrichtenplattform gegründet. Wie ist es dazu gekommen?
Schon während des Arabischen Frühlings fiel mir auf, dass die etablierten Medien keine gute Figur während der Revolution machten. Statt über Lösungen nachzudenken, waren sie aufgrund der politisch motivierten Geldgeber Teil des Problems. Arabische Medien berichten dann entweder aus saudischer oder iranischer, sunnitischer oder schiitischer Sicht, sind also entweder der jeweiligen Regierung oder der Opposition verpflichtet. Nach dem Scheitern des Arabischen Frühlings beschlossen meine Kolleginnen Diana Moukalled und Hazem al-Amin deshalb, Daraj zu gründen.
Wie charakterisieren Sie die Arbeit bei Daraj?
Bei uns gibt es weniger Geld und Reichweite, dafür mit Sicherheit aber mehr Freiheit, und das macht den Unterschied aus. Unsere einzigen Kriterien sind Qualität, Faktizität, Glaubwürdigkeit und Objektivität. Darüber hinaus gibt es keine roten Linien und Tabus. In unseren Artikeln und Videos werden alle Themen offen angesprochen, von Nacktheit und der gesellschaftlichen Überbewertung der Jungfräulichkeit bis hin zu Problemen bei internationalen Eheschließungen, bei denen libanesische Frauen und deren Kinder die Staatsangehörigkeit verlieren können. Auf politischer Ebene berichteten wir vom ersten Tag an über Themen, auch investigativ, die alle Seiten des politischen Spektrums berühren. Dadurch konnten wir uns schnell als verlässliche Informationsquelle durchsetzen.
Welche Perspektiven sehen Sie für den Libanon?
Das Land hat eine der höchsten Schuldenquoten weltweit und steht seit Monaten kurz vor dem wirtschaftlichen Kollaps. Ob der Libanon aus dem tiefen Loch herauskommt, in das er schon vor über 30 Jahren gefallen ist, steht in den Sternen. Jedoch habe ich mit der Revolution jetzt zum ersten Mal das Gefühl, dass die Gespenster des alten Bürgerkriegs ausgetrieben sind. Ich fühle eine Zugehörigkeit, wenn ich sehe, wie die Menschen keine Parteifahnen, sondern die des Libanon schwenken. In der Redaktion sind wir davon überzeugt, dass die Gewaltlosigkeit dieser Proteste ihre einzige Chance ist, zu überleben und sich durchzusetzen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Wirkung der Russlandsanktionen
Der Rubel rollt abwärts
Frauen in der ukrainischen Armee
„An der Front sind wir alle gleich“
Rauchverbot in der Europäischen Union
Die EU qualmt weiter
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“