Journalist über Verschwörungstheorien: „Keine Kontrolle über das Schicksal“
Die Menschen im Nahen Osten brauchen mehr Freiheit und Verantwortung. Dann sind sie auch gegen krude Welterklärungen immun, sagt Rami Khouri.
![](https://taz.de/picture/56421/14/nahost-verschwo__rung_25032015.jpg)
taz: Herr Khouri, im Nahen Osten sind eine Menge Verschwörungstheorien im Umlauf. Welche sind die bemerkenswertesten?
Rami Khouri: Verschwörungstheorien im Nahen Osten machen meist fremde Mächte für irgendwelche konkreten Ereignisse verantwortlich. Zurzeit hören Sie sehr oft, die Israelis und die Amerikaner hätten den Islamischen Staat (IS) gegründet. Eine andere Verschwörungstheorie lautet, der US-Geheimdienst CIA und Israel steckten hinter den 9/11-Anschlägen. Die Leute haben dafür natürlich keine Beweise. Das ist eher ein bisschen wie politisches Entertainment.
Woher kommen solche Ideen?
Ich weiß ja nicht, wie viele Leute wirklich an diese Ideen glauben. Ich höre es hin und wieder, dass Amerikaner, Israelis oder Europäer hinter allem Möglichen stecken. Ich denke, der Hauptgrund ist, dass es in der arabischen Welt keine Freiheit gibt – keine Redefreiheit, keine Pressefreiheit, in den Nachrichten wird nicht die Wahrheit erzählt. Wenn also etwas passiert, legen sich die Leute mithilfe von Fantasie ihre eigenen Erklärungen zurecht, warum dies oder das passiert. Es gibt aber auch eine zweite Ebene: In den vergangenen 100 Jahren haben die Araber viele Niederlagen eingesteckt – gegen Israel oder die USA. Und oftmals haben ausländische Mächte tatsächlich hinter Ereignissen gesteckt, die als negativ empfunden wurden: Denken Sie nur daran, wie der CIA und der britische MI6 im Jahr 1953 den beliebten iranischen Premierminister Mohammad Mossadegh gestürzt haben.
Dennoch: Warum stehen bis heute immer die ausländischen Regierungen unter Verdacht und nicht die eigenen Unterdrücker?
In ihrem Umfeld können die Menschen meist nicht ihr eigenes Land kritisieren, weil sie das direkt ins Gefängnis oder in eine Folterkammer bringt. Die Menschen sind in ihren eigenen Gesellschaften machtlos. Sie dürfen politisch nicht mitreden, niemanden zur Verantwortung ziehen, sie werden nicht korrekt informiert. Darum fühlen sie sich hilflos und den Wünschen Fremder ausgesetzt. Ausländer, wie Amerikaner, Briten, Türken, Iraner oder Israelis zu kritisieren, ist da einfach leichter.
Wie reagieren Sie als Hochschullehrer, wenn Ihnen solche Theorien begegnen?
Das Einzige, was man tun kann, ist zu sagen: Zeigen Sie mir den Beweis. Sie glauben, Israel steckt hinter diesem oder jenem? Ich kann es nicht ausschließen, aber beweisen Sie das erst einmal, bevor Sie es behaupten. Das nur zu glauben, reicht nicht.
Die Person: Geboren 1948 in den USA, kommt aus einer christlich-palästinensischen Familie, hat die jordanische und amerikanische Staatsbürgerschaft.
Die Arbeit: Khouri war Journalist des Daily Star, der größten libanesischen Tageszeitung. Heute lehrt er Internationale Politik an der American University of Beirut.
Wie reagieren Ihre Studenten auf diesen Hinweis?
Sie haben natürlich keine Beweise. Meist sagen sie dann: „Das weiß doch jeder.“ So eine Antwort ist schlicht der Aufschrei einer schwachen, unwissenden, verletzlichen und hilflosen Person, die keine Kontrolle über ihr eigenes Schicksal hat. Dieser Zustand gibt ihnen die Möglichkeit zu fantasieren. Er befreit sie übrigens gleichzeitig davon, die Verantwortung für das übernehmen zu müssen, was in ihrer eigenen Gesellschaft geschieht.
Sie haben auch eine amerikanische Staatsbürgerschaft. Begegnen Ihnen in den USA auch Verschwörungstheorien?
Ich bin sicher, dass es welche gibt. Überall auf der Welt denken sich Menschen bizarre Gründe für Dinge aus, die sie nicht erklären können. Aber in den USA sind mir bis jetzt keine begegnet.
In der Sozialpsychologie werden Verschwörungstheorien mit dem Zustand der Paranoia in Verbindung gebracht. Ist die arabische Welt paranoid?
Alles, was ich sagen kann: Das Gefühl, Opfer von Verschwörungen zu sein, kommt ja nicht aus dem Nichts. Es kommt von einem geschichtlichen Erbe, in dem israelische oder amerikanische Regierungsorganisationen sich viel gegenüber arabischen Ländern oder dem Iran herausgenommen haben. Das sind Tatsachen. Die Verschwörungstheorien beruhen also zum Teil schon auf Erfahrungen der vergangenen 60, 70 Jahre.
Können Sie ein paar Beispiele nennen?
Einiges ist im Lauf der Jahre vor allem auf Wunsch fremder Mächte geschehen. Das beginnt schon mit der Gründung vieler arabischer Staaten auf Basis des Sykes-Picot-Abkommens von 1916. Dann gibt es dokumentierte Fälle von Einmischungen ausländischer Geheimdienste, wie beim bereits genannten Sturz von Mossadegh, regelmäßigen Zahlungen an das jordanische Königshaus oder auch den Sturz von Saddam Hussein und die Teilnahme am Krieg in Libyen, um Gaddafi zu stürzen. Das sind ein paar Beispiele.
Nun gibt es ja nicht nur Verschwörungstheorien, sondern auch echte Verschwörungen: Zum Beispiel die Watergate-Verschwörung der Nixon-Regierung. Gibt es einfache Kriterien, das eine vom anderen zu unterscheiden?
Die Frage ist immer: Gibt es Beweise oder nicht? Im Fall von Watergate können wir nachweisen, dass hier ein Verbrechen vertuscht werden sollte. Dieses Verbrechen wurde aufgedeckt, und die Fakten liegen auf dem Tisch. Das ist der Prozess, anders geht es nicht.
Was müsste passieren, damit solche Verschwörungstheorien einer aufgeklärteren und mehr an Fakten orientierten Sichtweise Platz machen?
Die Menschen müssten mehr Macht bekommen – und mehr Verantwortung. Hätten sie mehr Macht, als Bürger eines demokratischen Landes, eines Rechtsstaats, in dem sie erleben, dass sie einfach vor Gericht ziehen können und dort auch Recht zugesprochen bekommen, wenn sie im Recht sind, wenn es außerdem Mechanismen gäbe, mit denen auch Regierungen zur Verantwortung gezogen werden können – wenn alle diese Dinge sich langsam ändern, und die Menschen das Gefühl bekommen, Kontrolle über ihr eigenes Leben zu haben, dann würden diese Verschwörungsvorstellungen zurückgehen. Dann können die Menschen die Dinge selbst in die Hand nehmen und wüssten auch, dass sie selbst dafür verantwortlich sind.
Die Lösung wäre also, was die Avantgarde der Aktivisten im Arabischen Frühling zu erreichen versucht hatte?
Ja. Die Selbstermächtigung wäre wohl der wichtigste Faktor. Wir haben ja – wie schon beschrieben – eine Geschichte der Einmischung von ausländischen Mächten. Das wäre danach wohl immer noch so. Aber das Gefühl der Hilflosigkeit und Passivität würde verschwinden. Jetzt haben die Menschen das Gefühl, hilflose Objekte zu sein. Wenn sie in ihren eigenen Gesellschaften nicht mehr so machtlos wären, wäre schon mal die Hälfte des Weges geschafft.
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