Journalismusforscherin über Onlinenews: „Ich hoffe auf Roboter“
Was läuft falsch in der Nachrichtenredaktion? Ein Gespräch über jammernde Journalisten, Qualität im Netz und falsche Ranglisten-Gläubigkeit.
taz.am wochenende: Frau Usher, Sie haben ein Buch darüber geschrieben, wie Sie fünf Monate lang im Newsroom der New York Times Journalisten beim Arbeiten beobachtet haben. Das war 2010 – und die Zeitung haderte damit, im digitalen Zeitalter anzukommen. Welche Ihrer Beobachtungen sind noch heute aktuell?
Nikki Usher: Mein Buch arbeitet drei Punkte der Auseinandersetzung in Newsrooms heraus, die meiner Ansicht nach Konflikte und Möglichkeiten für die Zukunft bergen: die Unmittelbarkeit, damit meine ich die Idee, die Seite konstant „frisch“ zu halten und zu verändern, die Interaktivität von Inhalten und die Partizipation der Leser. Das sind drei breite Themen, die sich weiterhin auf den Journalismus anwenden lassen, während er sich weiterentwickelt.
Als im Frühjahr 2015 ein Strategiepapier der New York Times herauskam, schrieben Sie ziemlich ernüchtert, dass keines der von Ihnen vor fünf Jahren beschriebenen Probleme richtig gelöst werden konnte. Woran liegt das?
Erst wenn man anfängt, Onlineredaktionen in Newsrooms wertzuschätzen und sie nicht nur als etwas zu sehen, das mit Sex- und Skandalinhalten Traffic generiert –, erst dann kann man anfangen, über gute Online-Entscheidungen nachzudenken. Es gibt die Tendenz, Onlineleser als weniger anspruchsvoll wahrzunehmen. Das halte ich für falsch. Es mag für einige Medien zutreffen, aber es gibt viele Onlineleser, die keine Printprodukte mehr kaufen und stattdessen online lesen. Und zwar mehr, nicht weniger. Vielleicht auch, weil sie sich in der Auswahl ihrer Quellen weniger beschränken möchten.
Die Redaktionen stehen schon extrem unter Druck. Der Aufwand, Texte online zu den Lesern zu bringen, ist immens gewachsen – weil es längst nicht mehr nur um Desktop-Distribution geht, sondern auch darum, Smartphones, Tablets und neue Kanäle wie Snapchat angemessen zu bedienen.
Ich hoffe ja auf Roboter. Ich denke, dass der nächste und wichtigste Trend ist, herauszufinden, wie man die Verbreitung von Inhalten so effizient wie möglich gestaltet. Das ideale System sähe so aus: Man schreibt eine gute journalistische Geschichte – und die wird dann algorithmisch im jeweils besten Format ausgegeben, basierend auf den Präferenzen des Nutzers und darauf, was diese Person zu einem bestimmten Zeitpunkt tut. Egal ob das über einen Social-Media-Kanal stattfindet oder über eine Textnachricht, einen Push-Alert, in Form einer langen Geschichte oder eines Blogposts. Vielleicht sind wir auch gar nicht so weit davon entfernt. Technische Innovation aus dem Silicon Valley aus anderen Bereichen wie dem E-Commerce könnte man auf Journalismus anwenden. So, wie das schon immer funktioniert hat.
Sehen Sie wirklich schon Anwendungen, die so arbeiten, zum Beispiel Firmen für Roboterjournalismus?
Es gibt automatisierte Berichterstattung, Firmen wie Narrative Science oder Automated Insights, wo Roboter Geschichten generieren, die man nicht selbst schreiben möchte – über Börsenentwicklungen oder Sportevents zum Beispiel. Algorithmische Verteilung von Inhalten kennen wir schon von sozialen Medien. Darum sollten wir auch bald im Silicon Valley frühe Ausführungen von Inhalte-Personalisierung durch Algorithmen sehen. Es gibt ein paar Start-ups, die das für Journalismus bereits machen. Apple News ist in diesem Zusammenhang interessant, weil es Nachrichten personalisiert ausspielt – allerdings ohne das Format zu variieren oder die aktuelle Aktivität des Lesers zu berücksichtigen.
Die Person: Nikki Usher lehrt als Assistenzprofessorin an der School of Media and Public Affairs der George Washington Universität. Zuvor studierte sie an der New Yorker Columbia School of Journalism in den USA und veröffentlicht regelmäßig, unter anderem beim Nieman Lab, zum Thema Zukunft des Journalismus.
Das Buch: 2010 erschien ihr Buch „Making News at the New York Times“ – über einen von mehreren längeren Aufenthalten in einer Nachrichtenredaktion, aus dem sie ein „ethnografisches Porträt“ der Zeitung ableitete.
Bedeutet Personalisierung auch, dass Geschichten dem Interesse des Lesers entsprechend umgeschrieben werden?
Ich weiß es nicht. Ich stelle mir das so vor wie Pastateig: Man muss ihn nur in die Nudelmaschine einfüllen und sagen: Ich will Lasagne oder Fusilli – und dann kommt das unten genau so raus. So könnte der Algorithmus aus einer Story einen Push-Alert machen. Einen Blogpost. Einen Tweet. Davon sind wir nicht mehr sehr weit entfernt – das gibt es in den genannten anderen Bereichen schon.
Sie beschreiben im Buch über die New York Times den Spagat zwischen zwei journalistischen Logiken – dem abgeschlossenen Printartikel und der stets aktualisierbaren Onlinestory.
Solange es ein permanentes Produkt gibt, das bis zum nächsten Tag bleibt, wird es immer schwierig sein, diese zeitlichen Muster des traditionellen Produkts und der Onlinewelt unter einen Hut zu bringen – egal ob wir über Fernsehen reden, über Radio oder über Print. Der Trick ist, beide Stränge gut zu managen. Onlinestrategien werden zu häufig als Nachklapp gedacht, während man sich zu stark auf die Printstrategie konzentriert. Dabei müssten die besten Köpfe sich vor allem auf Strategien für Onlineprodukte konzentrieren – aber dazu werden sie nicht einmal aufgefordert!
Die Menschheit hat ein Gewaltproblem. Kann man das ändern, wenn man den Nachwuchs entsprechend erzieht? Lesen Sie mehr darüber in der taz.am wochenende vom 13./14. Januar 2016. Außerdem: Ryan Gattis hat einen genau recherchierten Roman über die L.A. Riots geschrieben – "In den Straßen die Wut". Und: Batumi in Georgien ist eine absurde Stadt, besonders im Winter. Am Kiosk, eKiosk oder im praktischen Wochenendabo.
Werden Sie doch mal konkret: Was fehlt?
Es fehlt an Strategien – zum Beispiel dazu, jeden Tag darüber nachzudenken, welche Geschichten für eine bestimmte Plattform wichtig sind, sei es mobil oder auf Tablets. Außerdem sollte man sich darauf besinnen, dass online guter, vielleicht sogar besserer Journalismus stattfinden kann. Das vergessen viele. Ältere US-Journalisten und sehr viele deutsche Journalisten, mit denen ich gesprochen habe, rattern immer wieder runter: Wir sind nur auf Traffic für unsere Seiten aus. Wir folgen den Leseranalysen. Die zeigen aber, dass gute Inhalte auch belohnt werden! Man kann großartiges Onlinestorytelling machen – mit langen journalistischen Geschichten oder mit Multimedia-Anwendungen. Gerade coole Experimente mit Daten können eine Qualität von Storytelling beinhalten, die weit über das hinausgeht, was Nutzern im Printprodukt geboten werden kann. Die Leute mögen sagen, dass wir in einer Autoritätskrise des Journalismus stecken – weil die Menschen plötzlich nicht mehr loyal zu einer bestimmten Medienmarke stehen. Sie können jetzt selbst bloggen, Bürgerjournalisten werden. In den USA ist das Vertrauen in die Presse auf ein historisches Tief gesunken. Das ist eine Krise der Presse, die uns erzählt, was wir zu denken haben. Was die Autorität von Journalisten wirklich etabliert, ist, Nutzern schöne Erfahrungen dort zu bieten, wo sie sind. Und das ist online. Wer das nicht im Blick hat, kann negativ werden. Wenn Leute sagen, dass Journalismus stirbt oder dass sie höchstens noch zehn Jahre in der Branche haben – dann will ich ihnen wirklich eine reinhauen.
Was wäre außerdem nötig?
Ich glaube, dass Teile des Journalismus heute in bestimmten Bereichen stärker zusammenarbeiten sollten. Man muss diesen Wettbewerbsinstinkt loswerden, der Kooperationen zwischen Medienhäusern verhindert. Warum sprechen nicht alle Zeitungen in Berlin miteinander über ihre Traffic-Muster? Darüber, was sie über ihre Leser wissen, über Strategien außerhalb des eigentlichen Web- und Print-Models, wie sie die nutzen können, um zu wachsen oder wo ähnliche positive Einnahmequellen verlaufen? Das sind Mechanismen fürs Überleben.
Sie ärgern sich auch sehr darüber, wie Medienhäuser ihre Leser analysieren.
Wir haben eine grauenvolle Analysekultur. Die Leute lassen sich treiben von Zahlen und Listen, als ob die wirklich etwas bedeuten würden. Einen Artikel vor einem anderen in eine Rangliste einzuordnen, erzeugt den Eindruck, dass die erste Story besser ist als die zweite. Dabei gibt es viele Faktoren: Welche Geschichten gab es im Tagesmix? Wie gut hat sich diese Geschichte im Vergleich mit ähnlichen geschlagen – oder beim Publikum, das sich gewöhnlich für diese Themen interessiert? Das würde etwas bedeuten. Vielleicht war ein Artikel, der nur 10.000-mal geklickt wurde, die beste Story des Tages – weil er im Vergleich mit ähnlichen Geschichten so gut gelesen wurde wie kein anderer in den vergangenen sechs Monaten. Das ist der erste Teil: Verstehen, was man von seinen Zahlen ableiten kann und was nicht. Leute auf Basis dessen zu wertschätzen. Und immer im Blick zu behalten: Da wird nur gemessen, worauf Leute geklickt haben – nicht, was die Leser eigentlich wollen. Inhalt kann nur retrospektiv bewertet werden: Man publiziert, die Leute entscheiden.
Und was ließe sich noch aus smarteren Analysen ableiten?
Es gibt noch einen weiteren, erkenntnisträchtigeren Weg, auf seine Statistiken zu schauen – nämlich, indem man auch Nutzerverhalten mit einbezieht. Einiges davon ist hochpersonalisiert und anderes kann in strukturierten Datenmustern gefunden werden. Darum heißt eine der nächsten Herausforderungen für mich: Analyse-Instrumente zu entwickeln, um Big Data für Newsrooms nutzbar zu machen. Und deren Ergebnisse dann für die tagtägliche Entscheidungsfindung zu nutzen.
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