piwik no script img

Jonathan Meese im Schauspiel DortmundDie Diktatur der Kunst

Jonathan Meese sorgt für Chaos und tritt als Hitler auf, seine Mutter liest vor, Lilith Stangenberg verzweifelt: „Lolita“ im Schauspiel Dortmund.

Anke Zillich, Uwe Schmieder, Jonathan Meese, Lilith Stangenberg, Maximilian Brauer in „Lolita“ ​ Foto: Schauspiel Dortmund

Dortmund taz | Einer der Zuschauer, die das Schauspielhaus Dortmund weit vor dem Ende von Jonathan Meeses, nun ja, Performance „Lolita (R)evolution (Rufschädigendst) – Ihr Alle seid die Lolita Eurer Selbst“ verlässt, schaut beim Abgang noch einmal in die Ränge und sagt: „Was soll ich hier? Ich bin dem intellektuell nicht gewachsen.“

Das unbedingte ­Verstehenwollen, das ein Stadttheaterpublikum in Deutschland in der Regel an den Tag legt, wird hier tatsächlich zum Problem. Doch man kommt da nicht raus: Man würde so gern einen Sinn stiften im Chaos, das Meese veranstaltet, in den Brocken, die er seinem Publikum hinwirft, den Reizwörtern, die er touretteartig ausspuckt.

Eigentlich erklärt der vor kurzem 50 Jahre alt Gewordene, der seit Ende der 1990er Jahre an einem irrsinnigen Gesamtkunstwerk arbeitet, alles in einem handgeschriebenen Zettelkonvolut, das auf den Sitzen ausliegt. Es enthält eine Art Manifest für das „Theater der Zukunft“: Es ist „der hermetische Raum“, „ohne Angst“, „ohne Zensur“, es „paktiert niemals mit dem Publikum“.

Nur Kunst besetzt die Bühne

In der „Spielanleitung“ heißt es außerdem: „Bei der ‚Dortmundlolita‘ stürmt sich die Bühne selbst und die Lolitas ‚Tanzen‘ das Gesamtkunstwerk! Nur Kunst besetzt die Bühne und die Bühne wird als ultimativster Spieltraum jede Realitätsfantastische Aktivität unmöglich machen!“ (Groß- und Kleinschreibung nicht angepasst, d. Red.)

Unter diesen Vorzeichen ist alles möglich – nur eben nichts, das innerhalb des etablierten Systems Theater versteh- oder erklärbar wäre, das möglicherweise sogar eine Geschichte erzählte, indem sich Menschen in Rollen einfühlten.

Bernhard Schütz singt Heinrich-Heine: Die alten, bösen Lieder, / Die Träume schlimm und arg, / Die lasst uns jetzt begraben, / Holt einen großen Sarg

Trotzdem – und das muss man vielleicht unter der vielgerühmten Wohlerzogenheit verbuchen, die Jonathan Meese in Porträts zugeschrieben wird – bekommen die Menschen ihre „Lolita“: Meeses 90-jährige Mutter Brigitte Renate Meese, die die Performance wahrhaftig auf der Bühne mit sanfter Penetranz nach fast drei Stunden auch beenden wird, verliest per Videobotschaft die Wikipedia-Zusammenfassung von Vladimir Nabokovs Klassiker.

Und noch etwas passiert, bevor der Feuerschutzvorhang sich öffnet und Meese und Ensemble mit einem infernalischen Tohuwabohu die Diktatur der Kunst errichten: Bernhard Schütz, den Meese für die fünf Lolita-Aufführungen als Gast mit ans Haus gebracht hat, singt Heinrich-Heine-Bearbeitungen von Robert Schumann, unter anderem diese hier: „Die alten, bösen Lieder, / Die Träume schlimm und arg, / Die lasst uns jetzt begraben, / Holt einen großen Sarg.“

Ein großes Reinigungsritual

Betrachtet man den Abend retrospektiv durch diese Brille, dann war vielleicht alles ein großer Kehraus, ein Reinigungsritual, das sich der scheidende Dortmunder Intendant Kay ­Voges selbst zum Abschied schenkt. Beziehungsweise war es die Situation vor dem Kehraus: ein chaotisches, stoßhaftes Übermanntwerden von den alten, bösen Liedern, ein Durchexerzieren der schlimmen und argen Träume.

Denn natürlich spricht Meese, der wie ein Oberspielleiter-Feldwebel fast durchgängig auf der Bühne auf- und abmarschiert, in einer Tour laut in ein Mikrofon vom Führer, vom Ende der Demokratie, und er hebt sicher hunderte Male den rechten Arm zum Hitler-Gruß. Fast verzweifelt wirken Lilith Stangenberg, die er gern huckepack trägt (vielleicht ist das ein Lolita-Bild: der Kopf des alternden Künstlers, der aus dem Schoß der jungen Schauspielerin spricht), und seine Mutter, wenn sie bitten: „Nimm den Arm runter.“

Irgendwann landet auf dem Schmierzettel, den sich Theaterkritiker anzulegen pflegen, die Frage: „Ist das eine Fuge?“ Denn Meese und Ensemble bestreiten fast die kompletten drei Stunden mit einem kleinen Arsenal aus Satzfetzen, die sie variieren, umstellen, umkehren, man könnte sagen: zu einer polyphonen Sprachmelodie formen, einer bösen Fuge eben. Etwa „Ich bin unheilbar Deutsch.“ „Ich bin ein Glashändler aus dem Siebengebirge und werde im Teutoburger Wald die Alraune des Führers finden.“

Politischer Kommentar

„Ich kann meine Mitläufer-Fratze nicht mehr sehen.“ „Ich werde Deutschland so klein machen, dass es in eine Partei passt.“ In der ungefähr zweiten Stückhälfte muss das Publikum dann auch noch acht- bis zehnmal den eingespielten Rammstein-Hit „Sonne“ ertragen, über den Meese einen neuen Text grölt: „Hier kommt die Mutter / Sie wird die Demokratie bezwingen.“

So ist das eben nicht nichts oder bloß sinnloser Quatsch oder gaga, was der Künstler hier veranstaltet. Auch wenn er es bestreiten würde: Der Meese-Kosmos, in dem auch die finnischen Kinder-Trolls Mumins eine große Rolle spielen, lassen sich sogar gut als politischer Kommentar zur unserer Zeit der Troll-Kommunikation lesen, der ein Rückfall in die schlimmsten und ärgsten Albträume der Geschichte droht.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

3 Kommentare

 / 
  • weil ... sie für ihn eine Bedeutung haben. Dabei geht er mit allem, mit dem er spielt sehr liebevoll und damit eben auch respektvoll um - selbst mit dem allseits gehassten Hitler. Im Gegensatz zu der von mir beschrieben Aufführung bei dem mir der Schauspieler tatsächlich seinen Hass, Ekel und seine Angst entgegenwarf, spielt Jonathan Meeese mit alldem, ohne Angst - und dadurch macht er es begreifbar OHNE ideologische Denkverbote, wenn man den Mut hat sich darauf einzulassen - den Mut sich selbst, tatsächlich, zu "entideologisieren".

    Ich möchte meinen überlangen Kommentar entschuldigen, aber es erscheint mir ob der zunehmenden ideologischen Kämpfe und Kampfbereitschaft aller "Seite" in diesem Land, insbesondere in Anbetracht der hiesigen Vergangenheit und der Parallelen zu dieser Zeit sehr wichtig. Deshalb möchte ich hier nur noch ein Zitat von Jonathan anführen und sie bitten, ernsthaft bitten, sich daran mit allem Mut selbst zu prüfen, denn ich bin mir sicher, etwas Mut vorausgesetzt, man kann insbesondere in diesen Zeiten etwas ganz wichtiges aus dem Werk Meeses lernen (vielen Dank fürs durchlesen und danke für eure Arbeit)

    "Wenn ihr politisch denkt, wenn ihr überhaupt noch die Welt in politisch Links oder Rechts einteilen könnt, dann seid ihr von gestern! Dann seid ihr die Ewig-Gestrigen."

    • @Hagen25:

      Das Gut und Böse, Hell und Dunkel zieht sich durch die Geschichte der Menschheit. Sie können Links und Rechts nicht mehr denken wollen, den Gegensatz werden sie nicht aufheben können. Der kommt ja auch schon wieder in seinem Satz vor. Hier die von Heute, da die Ewig-Gestrigen



      Ich gebe aber zu, ich verstehe nichts davon, was der Jonathan Meese da macht.

  • Sehr geehrte TAZ-Mitarbeiter,

    mit Freuden habe ich gelesen, das sie über Jonathans neueste Inszenierung berichteten; in Zeiten zunehmender Repression ideologisch motivierter Denkverbote keine Selbstverständlichkeit und umso wichtiger.

    Ich schätze Jonathans Werk außerordentlich und das obwohl sein Stil überhaupt garnicht nach meinem Geschmack ist, WEIL es mich davor bewahrt hat in den Fanatismus abzugleiten (in meinem Fall ökologischen). Mehrere Stunden, gar Tage habe ich mich durch seine Performances "gequält" UM die eigentliche Aussage hinter diesem vermeintlichen Unsinn zu verstehen und möchte dies zum besseren Gesamtverständis hier kurz teilen.

    Erst gestern wurde ich zu einer Theatervorführung eingeladen - einem Stück in dem es um Hitler und die Juden ging. Das betreffende Stück wurde vom Original stark abgewandelt, herausragend waren in dieser vor Allem das sich der Darsteller Hitlers mehrfach auf der Bühne auszog und so tat als müsste er dringend ... weiterhin wechselte seine Rolle zwischen brüllendem wahnsinnig und hilflos apathisch (nicht dem Original entsprechend. Das ganze wahr meiner Wahnehmung nach so widerwärtig und der Sache gegenüber respektlos das mir buchstäblich schlecht wurde und ich am liebsten nach 10 Minuten den Saal verlassen hätte - wofür ich dann die Pause nutzte. Als ich nun eben Ausschnitte aus der Vorführung Jonathans sah, war ich fast überrascht das diese im Gegensatz, trotz weitaus absurderer und kulturloserer Inszenierung, keineswegs abstoßend und widerwärtig wirkte -sondern fast schon beruhigend. Also wo liegt der Unterschied?

    Er liegt vornehmlich in der Wahrhaftigkeit und dem liebevollem Umgang Jonathans mit den Themen. Er will Hitler nicht abwerten oder aufwerten - wie "Ideologieversaute" es tun sondern er spielt mit Hitler. Er spielt wie ein großes Kind - DAS ist liebevoll NICHT ideologisch. Und genauso sind auch die Mumins zu verstehen. Es ist keine Anspielung auf irgendetwas er spielt einfach damit weil...