Mit Sappho in der Unibibliothek: Bibben bis zur Bürgerlichkeit
Studieren, ohne sich Sorgen ums Geld machen zu müssen, ist schön. Aber es geht dabei auch etwas verloren, stellt unsere Autorin fest.
U mgeben von Studierenden, die ihre iPads in Aldi-Tüten verstauen und Pullover mit der Aufschrift „Favela“ tragen, sitze ich in der Unibibliothek und versuche zu schreiben. In Leipzig ist die Bib kein Ort zum Arbeiten. Bibben ist Lifestyle. Es gibt einen ganzen Verhaltenskodex. Wer im Westflügel sitzt und ein Zopfgummi am Handgelenk trägt, ist datebar.
Ich sitze nie im Westflügel. Mein Platz ist zwischen den Regalen im offenen Magazin. In der Bib fühle ich mich wie ein Imposter. Gefühle einer klassischen Aufsteigerin. Aufgewachsen mit Hartz IV, jetzt 1er-Abitur. Meine Mutter erzählt mir, dass ich als Grundschulkind sagte: „Mama, ich muss studieren.“ Mein Begehren, Teil dieser Welt zu sein, bleibt. Aber je länger ich in ihr stattfinde, fange ich an, an ihr zu zweifeln.
Die antike Dichterin Sappho nannte Begehren „süßbitter“. Für sie ist es die Gleichzeitigkeit von Lust und Schmerz. „Wenn ich dich begehre, geht ein Teil von mir verschwunden“, schrieb sie. In der Bib wird mir die Ambivalenz meines Begehrens klar, schließlich schreibe ich einen Text mit einer griechischen Dichterin als Referenz.
Was von mir verschwunden ist: die Nonkonformität.
Fast ein Bürojob
Acht Stunden in der Bibliothek zu verbringen ist fast ein Bürojob. Abends folgen dann Sportkurse, Plena, am Wochenende Party. Das ist er, der Fahrplan ins spießbürgerliche Leben. Das Tragische daran: Routine erstickt die Lebendigkeit.
Wo sind die Tage geblieben, an denen ich laut Musik aus einer Box im Zug gehört habe? Als ich nicht wusste, wo ich schlafen würde, und am Ende in Hausprojekten in Athen oder Wien landete? Oder die Schule schwänzte, um mit meinen besten Freund*innen unter einer Brücke sprayen zu gehen?
Früher lebte ich oft einfach in den Tag hinein. Zugegeben, das hatte nicht immer einen schönen Hintergrund: Hartz IV ließ gar nicht zu, dass man sich ambitioniert etwas aufbaut. Es ging ums nackte Überleben. Das war in erster Linie scheiße, aber es zwang mich, kreativ zu werden. Wenn ich schwimmen gehen wollte, blieb mir nichts anderes übrig, als nachts in Freibäder einzubrechen. Auf Reisen habe ich eher in Hausprojekten als in Airbnbs gepennt.
Jetzt sitze ich in der Bibliothek. Mein Alltag ist strukturiert im farblich sortierten Kalender, in dem Freund*innen genauso als Termine auftauchen wie meine Uni-Seminare. Das spießige Leben nistet sich ein.
Nicht mehr mit existenziellen Sorgen aufzuwachen ist tendenziell geil, trotzdem kann ich es nicht ignorieren: Bürgerlichkeit ist langweilig. Und Bibben ist die Vorstufe zum bürgerlichen Leben.
Ist es das, was du wolltest, als du gesagt hast, du musst studieren? Meine Mutter hatte damals mit „Ich glaube, studieren ist nichts für dich“ geantwortet. Mama, I am smart, warum denkst du so?
Die Illusion bricht
Jetzt, wo ich in der Bib sitze, verstehe ich, was sie meint. Die Leute hier sehen cute aus. Manchmal schaue ich auch in den Westflügel, erhasche den Blick einer Person mit Zopfgummi um den linken Arm (oder war es der rechte? Ich bin mir nicht mehr sicher). Aber die Illusion bricht schnell. Wie interessant kannst du sein, wenn du hier acht Stunden auf ein geregeltes Leben hinarbeitest? Die Wahrheit ist, auch ich bin langweiliger geworden, seitdem ich studiere.
Ob die Lösung ist, den Laptop zuzuklappen, Sapphos Gedichte zur Seite zu legen und mal wieder in ein Freibad einzubrechen? Ich weiß es nicht. Die Angst davor, was passiert, wenn die Routine wegbricht, ist ebenso präsent wie die Spontanität, die ich so sehr vermisse.
Sappho schreibt in einem ihrer Texte: „Ich weiß nicht, was ich tun soll, zwei Geisteszustände in mir …“, und bricht dann ab.
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