John Cage zum 100. Geburtstag: Diese seltsame Präsenz
John Cage wäre nun 100 Jahre alt geworden. Berühmt wurde der Komponist, als die Neue Musik politische Wirkung hatte. Sein Vermächtnis ist die Kooperation.
Ein einziges Mal habe ich John Cage auf der Bühne erlebt, nämlich im März 1992 im Art Institute of Chicago, fünf Monate vor seinem Tod. Er las zwei Stunden lang aus neuen Aufsätzen („The First Meeting of the Satie Society“ und „Overpopulation and Art“).
Deutlich habe ich vor Augen, wie Cage auf der Bühne sitzt, während das Publikum langsam den Saal verlässt, und er geduldig und mit viel Humor für eine weitere Stunde die Fragen der Verbliebenen beantwortet, ohne sich von den Saaldienern verscheuchen zu lassen. Würde es seiner Arbeit ohne seine physische Präsenz schlechter ergehen? Das war damals eine Angst seiner Bewunderer, eine Prophezeiung seiner Kritiker. Nein, Cages herausragende Bedeutung in ihrer Gesamtheit zu erfassen, fällt retrospektiv sogar leichter.
Am 5. September jährt sich der Geburtstag des amerikanischen Komponisten, Autors und multidisziplinären Künstlers John Cage zum 100. Mal. Ein willkommener Anlass, um seiner immensen künstlerischen Strahlkraft zu gedenken. So etwa mit der einjährigen Projektreihe „A Year From Monday. 365 Tage Cage“ an der Berliner Akademie der Künste, mit 100 Veranstaltungen in der gesamten Schweiz im Rahmen von „johncage 100“ und mit Tagungen, ob in Buenos Aires, Toronto oder Moskau. Flankierend dazu ist eine Vielzahl neuer Bücher erschienen, hervorhebenswert wäre vor allem Kenneth Silvermans Biografie „John Cage: Begin Again“.
Beängstigend omnipräsent
Mitzuerleben, wie jede einzelne Schaffensperiode aus Cages außergewöhnlich vielseitiger, fast sechs Jahrzehnte umspannender Karriere gewürdigt wird, wirkt beflügelnd. Von seinen frühen Arbeiten für Schlagzeugensemble bis zum „präparierten Klavier“; von den auf Grundlage des Zufallsprinzips entstandenen Kompositionen der fünfziger Jahre bis zu den unbestimmten Partituren; von den multimedialen Happenings und den lärmenden Musicircus-Events bis zu den späten, vergleichsweise strengen, konventionell notierten „Zahlenstücken“. Das musikalische Oeuvre von Cage scheint in all seinen Facetten fast schon beängstigend omnipräsent.
Dabei führen die Veranstaltungen zu Cages 100. Geburtstag weder zu einer dramatischen Neubewertung seiner Werke, noch kann man von einer Wiederentdeckung sprechen – schließlich sind seine Arbeiten nie in Vergessenheit geraten. Vielmehr ist der Strom der Aufführungen und Aufnahmen in den 20 Jahren seit seinem Tod nie abgerissen. Neue Bücher und Ausstellungen haben Cages Musik in einen noch breiteren, multidisziplinären Kontext stellen können.
Nach Cages Tod im Jahr 1992 protestierten zahlreiche seiner Schüler gegen den Nachruf in der New York Times, der seinen Beitrag als „Philosoph“ betonte (eine beliebte Taktik, um Cages Bedeutung als Komponist herabzuwürdigen) und noch einmal die Scharlatanerievorwürfe anführte, die ihm vor allem in den sechziger Jahren – auf der Höhe seines Einflusses – gemacht wurden. Viele prophezeiten, Cages Musik würde in Abwesenheit ihres funkelnden, launigen und unberechenbaren Schöpfers nicht mehr so häufig aufgeführt und bald in der Versenkung verschwinden.
Unnötige Aufregung der Jünger
Tatsächlich hat die Abwesenheit von Cages Präsenz seiner Musik nicht geschadet, auch wenn seine Werke nun stärker als Teil des großen Cage-Projekts begriffen werden. (Der Begriff „Projekt“ klingt für das Gesamtschaffen dieses anarchischen Künstlers vielleicht zu systematisch, doch möchte ich die konzeptionelle Strenge seiner Arbeiten hervorheben und die Gabe, wie ausweglos erscheinende Situationen ihn immer wieder besondere kreative Lösungen finden ließen.) Die Entrüstung, mit der seine Jünger immer wieder reagierten, wenn Cage als Autor, Ästhetizist oder Gesamtkünstler bezeichnet wurde, hat sich als unnötig erwiesen.
David Grubbs ist Musiker und Professor für Klangkunst und Performance am Brooklyn College in New York. Im kommenden Jahr erscheint sein Buch „Records ruin the Landscape: John Cage, the Sixties and Sound Recording“ im Verlag der Duke University, Durham.
Ich stimme dem Musikwissenschaftler James Pritchett zu, der John Cages 1961 erschienenes Buch „Silence“, eine Sammlung seiner Vorträge und Essays, als „das wichtigste Ereignis in Cages Gesamtschaffen als Komponist“ bezeichnet.
Vielleicht sollten wir daher das 50. Jubiläum von „Silence“ ebenfalls feiern, schließlich wurde diese Anthologie in 40 Sprachen übersetzt, mehr als 500.000 Exemplare davon wurden verkauft. „Silence“ war das Werk, das mehr als jedes andere aus Cage eine der überragenden Figuren der sechziger Jahre machen sollte. Es war das Jahrzehnt, in dem Cages Ideen zu Themen wie Zufall, Unbestimmtheit, Multiplizität und Absichtslosigkeit nicht nur durch Musik, sondern unter anderem durch bildende Kunst, Tanz, Lyrik und Philosophie beeinflusst wurden.
Im August 1962 bemerkte der Bildhauer Robert Morris in einem Brief an den Musiker und bildenden Künstler Henry Flynt: „Seit einiger Zeit geht es nur noch um Ideen – die angesehensten Künstler sind diejenigen mit den größten und prägnantesten Ideen (zum Beispiel John Cage & Marcel Duchamp).“
Implodierende, finale Synthese
Auch in dem wegweisenden Aufsatz des Kunsthistorikers Michael Fried aus dem Jahr 1967 „Art and Objecthood“, in dem er den Minimalismus attackiert, wird Cage als herausragender, wenngleich auch schädlicher Einfluss genannt: „Das Unvermögen, die gewaltigen qualitativen Unterschiede zwischen der Musik von beispielsweise Elliott Carter und Cage oder den Gemälden von Morris Louis und Robert Rauschenberg zu erkennen, zeigt nur, dass die wahren Unterschiede – zwischen Musik und Theater im ersten Fall und Malerei und Theater im zweiten – durch die Illusion verdrängt werden, die Grenzen zwischen den verschiedenen Kunstrichtungen würden sich allmählich auflösen … und die Kunstrichtungen sich auf eine implodierende, finale Synthese zubewegen, die höchst erstrebenswert sei.“
Aus heutiger Sicht erweist sich Frieds Behauptung, das Vermischen oder auch nur die gleichzeitige Präsenz unterschiedlicher künstlerischer Disziplinen und Medien sei reine Illusion, als falsch. Doch Fried hat zumindest insofern recht, als dass die Weigerung, die Grenzen zwischen den einzelnen künstlerischen Disziplinen als sakrosankt anzusehen, im Kern das Vermächtnis eines John Cage ausmacht.
Der Komponist Robert Ashley sagte über die Komplexität von Cages Einfluss: „Dass er berühmt wurde, hatte viele gute und bewunderungswürdige Gründe. Einer davon ist, dass die zeitgenössische Musik in den sechziger Jahren eine – heute verschwundene – politische Kraft hatte und er ihr bekanntester Komponist war.“ Während die politische Wirkung, die die neue Musik vor fünf Jahrzehnten hatte, heutzutage fast vollständig verloren gegangen ist, finden Cages Bemühungen (und seine Prominenz – diese seltsame „Präsenz“) in unzähligen multidisziplinären Performances jedweder Ausprägung ihren Nachhall.
Obwohl ich mit anhaltender Begeisterung Aufführungen seiner Musik besuche, sehe ich John Cage im Jahre 2012 eher als Exempel für solche Aufführungen, die sich der Zuordnung zu einer starren Kunstdisziplin verweigern. Damit meine ich, dass ich in neuen musikalischen Praktiken und Formen nicht auf Teufel komm raus nach Anklängen von Cages Arbeiten suche.
Stattdessen finde ich sie umso deutlicher, in experimentellen und oft auch ad-hoc entstehenden Kooperationen, in denen der Geist der Kooperationen zwischen John Cage und Merce Cunningham und den außergewöhnlichen Musikern (wie David Tudor, Takeshi Kosugi, Pauline Oliveros und David Behrman) und bildenden Künstlern (von Robert Rauschenberg und Jasper Johns bis Charles Atlas) aus dem Umfeld der Merce Cunningham Dance Company mitschwingt.
Experimentelle Räume
Vor meinem geistigen Auge sehe ich noch einmal alle die rätselhaften, fantastischen, interdisziplinären Aufführungen, die mich in den letzten Jahren begeistert haben: Musik, Text, Tanz, neue Formen von Kino, Live-Interaktionen.
Und doch macht sich das Vermächtnis von John Cage auch in den öffentlichen Institutionen bemerkbar. Im Jahr 2012 eröffneten neuartige experimentelle Performance-Räume in der Londoner Tate Modern (The Tanks), im New Yorker Lincoln Center (Claire Tow Theater) und an der Brooklyn Academy of Music (BAM Fisher).
Sie gehören zu einer wachsenden Zahl von Performance-Räumen, in denen die Trennlinie zwischen Zuschauer und Künstler verschwindet. Und so höre und sehe ich John Cage nicht nur in den vielen diesjährigen Aufführungen, sondern kann ihn mir in diesen und anderen, wesentlich offeneren Räumen auch in Zukunft vorstellen.
Aus dem amerikanischen Englisch von Harriet Fricke
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“