Joe Bauer : Die Nummer 100
Es wird gefeiert, keine Frage, es fragt sich nur, was: hundert Demos, hundert Wochen des Durchhaltens oder gefühlte hundert Jahre Einsamkeit im Kampf um direkte Demokratie. Am Montag, 21. November, treffen sich die Gegner von Stuttgart 21 zu ihrer hundertsten Montagsdemonstration, sie kommen mit Stolz oder Freude, zweifelnd oder zornig. Es ist eine seltsame Nummer, immer von Neuem, immer wieder mit neuer Dynamik loszumarschieren, mit Sinn und Verstand oder mit dem Instinkt des Kamels, das auf seinem langen Weg durch die Wüste zur Tränke eilt.
Es wäre keine Kunst, sich über hundert Wochenetappen eines Demo-Marathons lustig zu machen, all die Klischees auszupacken, die auch ein wenig Wahrheit bergen. Die Geschichten von den Leuten, die ihre Ersatzfamilie vor dem Stuttgarter Hauptbahnhof gefunden haben. Esoteriker, die den Kokon gewechselt haben. Menschen, die sich vor dem abgerissenen Nordflügel des denkmalgeschützten Paul-Bonatz-Baus wie Trümmerfrauen und -männer fühlen, bereit anzupacken, ohne je die Frage klären zu können: Fühlt Sisyphus sich gut, wenn er den beschissenen Stein nach oben rollt?
Ich war nicht bei hundert Montagsdemos dabei, es waren aber etliche Dutzend, auch wenn ich keine Kerben in meine Stiefel geschnitzt oder nach jeder Kundgebung einen neuen Button an meine Jacke geheftet habe. Ich erinnere mich an die ersten Versammlungen der Widerständler vor dem Hauptbahnhof vor 100 Montagen, als es nicht nötig gewesen wäre, die Aktionen den Behörden zu melden.
Bei der ersten Demo gegen Stuttgart 21 hat man vier Leute gezählt, etwa zehn weniger als damals bei den Hartz-IV-Protesten auf dem Schlossplatz. Der Geruch einer friedlichen Revolte lag noch nicht in der dicken Luft des Kessels, keiner ahnte, dass sich in der stinklangweiligen, durch und durch unerotischen Bahnhofsgegend etwas zusammenbrauen könnte, das bald die ganze Republik beschäftigen sollte.
Wie immer, wenn in schwäbischen Landstrichen etwas lief, reagierten die Medien mit Häme, mit folkloristischen Floskeln. Journalisten in Hamburg oder Berlin, oft selbst Einwanderer aus westlichen und östlichen Dörfern, übten sich in ihrem Trendschnüffler-Ehrgeiz in derselben provinzlerischen Überheblichkeit wie Stuttgarter Politiker bei ihrem läppischen Weltläufigkeitsgetue auf ihrem fantasielosen Immobilienbazar. Pausenlos war die Formulierung zu lesen, „ausgerechnet bei den biederen Schwaben“ koche die Volksseele hoch.
Da es aus der Sicht deutscher Meinungsmacher unmöglich schien, irgendwer könnte ernsthaft aufmucken in einer Gegend, wo man auch die Biografien von Hölderlin und Schiller, Elser und Ensslin nicht vermutet, haben sich die „Beobachter“ bemüht, die Protestmenschen lächerlich zu machen. Mal waren es „Methusalem-Rentner“ (Stern), mal Porsche-Piloten aus der Halbhöhe, schließlich „Wutbürger“ (Spiegel) aus der erweiterten Spießerabteilung. Vor allem schwätzten sie alle Schwäbisch, woran die weltmännischen Kritiker der Mundartbühne immer ihre pubertäre Freude haben.
Auch unsereins hat sich gelegentlich die Frage gestellt, wer sich da, angetrieben von den Trommeln der Musikanten, Montag für Montag zu den zunehmend professioneller organisierten Kundgebungen am Bahnhof versammelt. Aber obwohl ich in der Menge immer fleißig meine Kreise zog und die Perspektiven wechselte, wage ich es bis heute nicht, den bunten Haufen zu charakterisieren oder die Leute über einen Kamm zu scheren, weder über einen verlausten noch einen vergoldeten.
Viele junge Frauen, viele alte Männer
Selbstverständlich habe ich immer wieder Bekannte getroffen und Freunde gefunden, Montagsgesichter, die ich ohne die Montage nie kennengelernt hätte. Timo, den Fahnenschwenker vom SPD-Ortsverein aus dem Osten der Stadt, Matze, den Devotionalien-Produzenten mit Fußballverstand; oder Jochen, das laufende Gewissen mit ausgeprägter Neigung zu klassischer Musik und neuerdings zur Trillerpfeife, hat einen Dach- und Trommelfellschaden davongetragen, hat er mir gesagt.
Und da war Thorsten, der im Zeugenverhör bei den Polizisten aussagte, er könne sich an den Text des Redners vor den Scharmützeln des 20. Juni nicht erinnern, weil man nach achtzig Demos nicht mehr jedem zuhöre. Oft genug aber, wenn ich bei einer Demonstration war, manchmal aus Gewohnheit, manchmal gezielt, um einen bestimmten Redner oder Musiker zu hören, hab ich mich gewundert: Ich konnte mir beim besten Willen nicht erklären, warum an diesem Tag auffällig viele junge Frauen und eine Woche darauf tatsächlich so viele alte Männer im Aufgebot waren. Eine Erklärung wäre, dass junge Frauen und alte Männer mehr Zeit haben, sich zu informieren und zu engagieren, als coole Kommentatoren, die zwischen ihrem Talkshow-Gelaber aus tausend Kilometer Entfernung hundert Wochen Gemeinsamkeit nicht begreifen.
Sei's drum. Der Montag ist ein guter Tag in Stuttgart.
Joe Bauer ist Kolumnist der „Stuttgarter Nachrichten“ und Stadtflaneur.