Jobcenter sparen bei Langzeitarbeitslosen: Statt Förderung mehr Personal
Die Jobcenter sparen bei der Förderung von Langzeitarbeitslosen - und stocken mit dem Geld ihre Personaletats auf. Für Qualifizierungen fehlt so das Geld.

Langzeitarbeitslose finanzieren die Angestellten der Arbeitsverwaltung: Die Jobcenter schichten jährlich hohe Millionenbeträge für die Qualifizierung von Arbeitssuchenden in ihre Personaletats um. Das geht aus Unterlagen der Arbeitsverwaltung hervor, die der taz vorliegen.
Beispiel Münster: In der Beamtenstadt sollen in diesem Jahr eigentlich über 22,5 Millionen Euro für die Qualifizierung und Schulung von 14.000-Hartz IV-Empfängern zur Verfügung stehen. Doch im Personalbudget der von der Stadt und der lokalen Agentur für Arbeit gemeinsam getragenen Arbeitsgemeinschaft (Arge) zur Betreuung von Arbeitssuchenden, klafft ein Loch. Es fehlen mindestens 2,2 Millionen Euro.
Die will die Leiterin des Jobcenters, Ulrike Otto, bei der Wiedereingliederung der Langzeitarbeitslosen in den Arbeitsmarkt einsparen: "Dieser Betrag ist aus dem Eingliederungsbudget 2010 in das Verwaltungsbudget umzuschichten", schreibt Otto in einer Vorlage für den Lenkungsausschuss ihrer Arge.
"Völlig normal" sei die Umschichtung von Fördergeldern in den Personaletat, so die Jobcenter-Chefin zur taz. "Das machen alle Argen so, zumindest in Nordrhein-Westfalen.", sagt Otto. Auch die Bundesagentur für Arbeit (BA) hält Ottos Vorgehen für üblich: "Das machen viele andere Jobcenter auch so", sagt BA-Sprecherin Frauke Wille. "Das ist politisch so gewollt."
Bei der Einführung von Hartz seien die Personalkosten der Jobcenter zu niedrig kalkuliert worden, heißt es aus dem Bundesarbeitsministerium: "Da wird in großem Maßstab umgeschichtet." Auf alle 345 Jobcenter hochgerechnet bedeuten dies, dass deutschlandweit jährlich mindestens eine Milliarde Euro weniger für die Qualifizierung von Langzeitarbeitslosen zur Verfügung steht als bisher angenommen.
Entsprechend heftig ist die Reaktion von Arbeitsloseninitiativen: "Es ist eine Unverschämtheit, bei den Arbeitssuchenden zu kürzen - und ihnen danach die Schuld an ihrer Arbeitslosigkeit zu geben", sagt Martin Behrsing, Sprecher des Erwerbslosenforums Deutschland. Harsche Kritik kommt auch von der Linkspartei: Rüdiger Sagel, Abgeordneter im nordrhein-westfälischen Landtag, spricht von "einem Sumpf der Selbstbedienung." Statt Arbeitssuchende zu unterstützen, würden "intern auf unzulässige Weise zuerst die Hartz-Verwaltungsapparate bedient".
Maßvoller fällt dagegen die Kritik von SPD und Grünen aus. "Es wäre sauberer, wenn Personal- und Fördergelder klar getrennt wären", sagt etwa die sozialpolitische Sprecherin der NRW-Grünen, Barbara Steffens. Allerdings stelle auch die Beratung von Langzeitarbeitslosen eine Fördermaßnahme dar. Ähnlich klingt der arbeitsmarktpolitische Sprecher der SPD-Landtagsfraktion, Rainer Schmeltzer. Doch auch er räumt ein: "Es wäre besser gewesen, bei Einführung der Argen realistische Personalkosten einzuplanen."
Hinzu kämen Kürzungen von Seiten der Bundesregierung, die Ende vergangener Woche beschlossen hat, für die Jobcenter vorgesehene Mittel in Höhe von 900 Millionen Euro einzusparen. "Über 100 Jobcentern bundesweit" drohe damit "faktisch die Arbeitsunfähigkeit", sagt Schmeltzer. "Das ist eine Katastrophe."
Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach Taten in München und Aschaffenburg
Sicherheit, aber menschlich
Streit um tote Geiseln in Israel
Alle haben versagt
Soziologische Wahlforschung
Wie schwarz werden die grünen Milieus?
Comeback der Linkspartei
„Bist du Jan van Aken?“
Krieg in der Ukraine
Keine Angst vor Trump und Putin
Polarisierung im Wahlkampf
„Gut“ und „böse“ sind frei erfunden