Jil-Sander-Ausstellung in Frankfurt: Hanseatische Vorstellung von Qualität
Das Frankfurter Museum Angewandte Kunst zeigt mit „Jil Sander. Präsens“ eine Modeausstellung, die fast ohne Stoffe und Kleiderpuppen auskommt.
Der erste Aha-Effekt kommt vor dem Catwalk. Über drei Großbildschirme laufen weibliche und männliches Models, der Slow-Motion-Effekt federt ihre Bewegungen schläfrig ab. Sie tragen skulpturale, aber niemals extravagante Schnitte in diesen monochromen Farben, wie sie für die Designerin so typisch sind. Die Mäntel kommen ohne sichtbare Knöpfe aus, nur um den Purismus anderswo mit neonfarbenen Paspelierungen lässig zu brechen.
Dazu schweres, aufgeregtes Atmen, unterlegt von Beats, Loungemusik, Mash-ups; ein Soundtrack zum Fashion-Show-Cool. Irgendwann tauchen die Supermodels auf: Linda Evangelista mit Pagenkopf. Kate Moss mit kindlichem Gesicht. Die Überraschung weicht einem kleinen Schock: Diese Kleidung, dieses Schaulaufen muss mindestens 20 Jahre alt sein, vielleicht 25. Mehr als zwei Dekaden!
Selbst wer niemals einen Laden von ihr betreten hat, kann ein paar Schlagworte über Jil Sander aufzählen: Die beeindruckend unter Beweis gestellte Zeitlosigkeit gehört zum Vokabular, der Minimalismus und ein Purismus, der trotzdem ein Versprechen nach Mehr in sich birgt.
Nach dreijähriger Überredung hat Matthias Wagner K, Direktor des Frankfurter Museums Angewandte Kunst (MAK), es geschafft: Ebendort, im Richard-Meier-Bau, wird nun die weltweit erste, umfassende Jil-Sander-Schau auf großzügigen 3.000 Quadratmetern präsentiert.
Funktionsjacke als Nonplusultra modischer Extravaganz
Ausgerechnet in dem Land also, wo Mode selbst in Designmuseen selten vorkommt und die Funktionsjacke für manch einen das Nonplusultra modischer Extravaganzen darstellt. Aber vielleicht passt beides dann eigentlich gar nicht so schlecht zusammen: Mit dem Modebegriff kann Sander selbst wenig anfangen, mit gutem Stil hingegen viel.
„Jil Sander. Präsens“, läuft bis zum 6. Mai 2018 im Museum Angewandte Kunst (MAK), Frankfurt. Der im Prestel-Verlag, München, erschienene Katalog zur Ausstellung kostet 49,95 Euro, im Museum 39 Euro
Wer klammheimlich hofft, irgendwo versteckt auf eine schöne Geschmacklosigkeit zu stoßen, wird enttäuscht: Schließlich basiert der Erfolg der 1943 in Dithmarschen Geborenen neben einem sehr sicheren Gespür für ihre Arbeit auch auf maximaler Mitbestimmung an allen kreativen Entscheidungen. Von ihrer eigenen Typografie, die seit 1972 wie nahezu alle Sander-Entwürfe erstaunlich gut gealtert ist, bis zur je einzelnen Kooperation mit Kosmetikherstellern oder Sportfabrikanten.
Beim Durchblättern der digitalen Lookbooks fallen die Jahreszahlen ebenfalls kaum ins Gewicht. Hemden oder Blusen. Mäntel, Blazer, Jacken, Strick. Röcke, Kleider und natürlich: Hosen! Für Frauen und für Männer, vielleicht mal ein Nietengürtel. Auch in Sanders Kollektionen werden die Hosenbeine für die Herren irgendwann recht schmal, doch niemals luftabschnürend enganliegend wie anderswo. Mit dem Heroin Chic der frühen 90er Jahre hatte die Modeschöpferin ebenso nichts zu schaffen: Der Körper bleibt bei ihr stets unversehrt.
Bekenntnis zur Schlichtheit
Und das gilt auch in einem weiteren Sinne: Es ist keine komplette Androgynität, die hier verfolgt wird. Aber das Geschlecht interessiert kaum oder in jedem Falle nicht explizit. Sander befreite nicht nur die Frau von der Dekoration, wie es im Ausstellungstext heißt; ihre Mode befreite auch ihre Trägerin selbst vom Status eines bloßen Beiwerks. Dieses Prinzip lässt sich heute geschlechtsunabhängig formulieren: Jil Sanders hat das Diktat der Mode zugunsten seiner Trägerin, seines Trägers umgekehrt.
Nicht ausbuchstabiert wird, was sich wie ein roter Faden durch die Ausstellungsräume spinnen ließe: Wie sich in ihrem Bekenntnis zur Schlichtheit eine sicherlich hanseatische Vorstellung von Qualität, aber eben auch Bescheidenheit niederschlägt, wie man hier und dort Überlagerungen aus französischer und fernöstlicher Stil-Auffassung ausmachen könnte, aus durchaus verspielter Eleganz auf der einen und der völligen Abkehr vom Ornament, wie man sie auch bei den japanischen Modeschöpfern Yōji Yamamoto oder Rei Kawakubo findet, auf der anderen Seite.
Äquivalent zur Mode, die Trägerin und Träger ultimativen Freiraum verschaffen soll, lässt auch das MAK seinen Exponaten viel Platz zur Entfaltung. Die Leere, das Nichtvorhandensein gehört dazu und ist von der Designerin ausdrücklich gewollt. Alles, bloß keine Retrospektive! Auch die Wandtexte halten sich vornehm zurück. Das Wesentliche, diese Jil-Sander-Quintessenz, soll individuell erfahrbar sein. Was in diesem Kontext natürlich heißen muss: audiovisuell, nicht olfaktorisch oder gar haptisch.
„Präsens“ ist eine ätherische Angelegenheit
Überhaupt gibt es erstaunlich wenig Material im eigentlichen Sinne: Rohstoffe wie der Tweed, den Sander einst für die weibliche Mode nutzbar machte, kommen kaum vor. „Präsens“ ist mit viel Video und Sound, Luft und Raum auch eine recht ätherische Angelegenheit, eine Ideen- und Wandelschau geworden: Man wandelt so durch die Räume, wandelt hinauf und hinab (statt Treppen gibt es schiefe Ebenen), und verlässt das Haus später in einem fast schon meditativen Zustand.
Nichts sei langweiliger als Kleidung auf Kleiderständern, wurde die Designerin, deren Entwürfe sich im Tragen entfalten sollen, gern zitiert. Ganz ohne ist ihre Ausstellung nicht ausgekommen. Aber an einer Stelle gelingt Jil Sander doch ein kleiner Coup, der zu den stärksten Momenten der Schau gehört: Im vielleicht schönsten Raum des Hauses, dessen Fenster großzügige Blicke auf den herbstlichen Emma-Metzler-Park und das Mainufer freigeben, wird ihr erster Flagshipstore auf der Pariser Avenue Montaigne nachgestellt.
Eigentlich sieht man hier aber bloß dessen Skelett: Wände mit Schattenfugen, diffuses Licht, ein Tisch, zwei Stühle. Stahlregal und Stangen sind komplett leergefegt. Ha!: Ein Modegeschäft, das ganz ohne Mode auskommt. Kleidung ist hier nur virtuell vorhanden. Stattdessen all das, was Sander außerdem gestaltet und konzipiert: Architektonische Skizzen eines Treppen-Bauteils, eines Stahlbodenregals. Der Raum im Raum entfaltet sich real und zusätzlich virtuell.
Blickt man eine Weile auf die Bilder-Slideshow, kann man keinen Unterschied mehr ausmachen zwischen den spärlich gefüllten Räumen in Frankfurt am Main und in der Avenue Montaigne. Auch wenn es fraglos Punkte gibt, an denen ein tieferes Eintauchen lohnenswert wäre: Schöner Luxus, einer Ausstellung, einer Designerin einmal wörtlich so viel Raum zu lassen.
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