Jenseits der Zwischenzeit: Irgendwie am Leben sein
■ Wer nach Erschöpfung riecht, wird durchschaut: Eine kurze Geschichte über das Glück an einem zugigen Ort
Melanie trat auf den Bahnhofsvorplatz. Wie bei der Hinfahrt war es wieder sonnig, und der Wind blies kalt. Sie versuchte, ihren kalten Füßen auch etwas von der Sonne mitzuteilen, und ging trampelnd an eine windgeschützte Stelle. Hier war es wie auf einer Skihütte. Vor dem Bahnhof war viel los. Ein hochqualifiziert berufstätig gekleideter Mann stürzte aus einem Taxi und raste über den Platz zum Bahnhofseingang.
Melanie kam es so vor, als würde er aus gehetzten Augenwinkeln heraus sie und andere Leute einfach rumstehen sehen. In seinem Gesicht lag eine flüchtige Verwunderung darüber, daß andere es nicht eilig haben. Und daß die anscheinend auch irgendwie am Leben waren. Ihr Gesicht taute in den warmen Sonnenstrahlen auf. Ein unsympathischer Süffel stellte sich an eine Säule vor sie. Er drehte sich hin und wieder ekelerregend zu ihr um, wahrscheinlich überrascht, daß sie sich nicht auf der Stelle einen neuen Platz suchte.
Ein Mann kam die U-Bahn- Treppe hoch und steuerte in Richtung Kiosk. Er sah ein bißchen grau aus. Er hatte Melanie auch schon gesehen.
Mit einem Päckchen Zigaretten schlenderte er in den Windschatten. Weit entfernt von Melanie blieb er stehen. Dort war es aber noch nicht windstill und die Schöße seines alten Jacketts fächelten in den Böen. Er sah zu Melanie herüber. „Hier ist es windgeschützter!“ rief sie. Der Mann zögerte, Melanie schaute unaufmerksam zu einer Gruppe von Süchtigen.
Dann stand er neben ihr. Sie lächelten sich zu. Der wie ein Kriegsgewinnler bei Koeppen herausgeputzte Süffel staunte. Der Mann zündete sich eine Zigarette an. Der Rauch blies genau auf Melanie. Der Mann stellte sich auf die andere Seite. „Danke.“ „Sie riechen erschöpft.“ „Ich weiß“, sagte Melanie schnell, und für die Dauer einer millionstel Sekunde sahen sie bis in die wirklich zartesten Nervenenden ihrer Zehenspitzen durch sich hindurch. Dann wurde ihre Aufmerksamkeit abgelenkt. Zu der Gruppe Süchtiger an der Sitzgelegenheit auf dem Vorplatz kam einer dazu. Aber die anderen wollten ihn nicht dabeihaben. Er wurde sofort beschimpft und vertrieben. Der Dazugekommene wollte das nicht einsehen, und es kam zu kleinen Handgreiflichkeiten. Er gab aber schnell auf und ging wieder zur Eingangshalle zurück. Er hinkte in klumpigen Turnschuhen, und sein langer, dünner Mantel stand trotz des kalten Winds offen. Er stieß noch einige Verwünschungen aus, dann sah man ihn nicht mehr.
Bei der Bank war es wieder ruhig geworden. Eine andere Gestalt kam auf sie zugewankt. Der war beliebter. Der Mann summte gedankenverloren ein Lied. Melanie kannte es und sang den Refrain mit. „Only a hobo, but one more is gone, leaving nobody to sing his sad song. Leaving nobody to carry him home, he was only a hobo, but one more is gone.“ Der Kriegsgewinnler glotzte. „Wollen Sie übermorgen zu einer kleinen Party zu mir kommen?“ „Ja, gerne.“ Er gab Melanie seine Adresse.
Sie verabschiedeten sich, und er bog mit leichten Schritten um die Ecke. Melanie blieb noch einen Moment und sah, wie der neu dazugekommene Junkie lauter Sachen aus seinen Moonboots schüttelte. Alle freuten sich. Sie nahm ihre Tasche und ging zur U- Bahn. In der Tasche noch immer die Plätzchentüten von ihrer Oma und die große Holzfischschale aus Papua-Neuguinea von einer Tante, die dort als Missionsschwester gearbeitet hatte und jetzt im Vatikan war. Ofenfutter. Katrin Schings
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