Jelinek-Uraufführung in Hamburg: „Viren tanzen Polka“
Karin Beier inszeniert ein Pandemie-Stück von Elfriede Jelinek am Schauspielhaus Hamburg. Es ist virtuos, grotesk, plakativ. Aber was war die These?
Vor etwa einem Jahr veröffentlichte das Zeit-Feuilleton einige Werkstatteinblicke: Zwei Dutzend Künstler*innen wurden befragt, wie sie mit der lähmenden Pandemie-Lockdown-Situation umgehen, was sie denken, wie sie leben, an was sie gerade arbeiten. Alle, darunter Sibylle Berg, Nora Fingerscheidt, Wolfgang Rihm und Edgar Selge, schienen recht beschäftigt. Sie arbeiteten an Rohfassungen, an ihren nächsten Auftritten, an eigenen Büchern oder waren am Arbeiten an sich. Allein Elfriede Jelineks Antwort fiel überraschend kurz aus: „Ich arbeite an überhaupt nichts“, gab sie zu Protokoll. Entwaffnend ehrlich und beruhigend menschlich.
Aber so richtig lang hielt Jelineks Pause offenbar nicht an. Inzwischen hat sie ein neues Stück geschrieben, das Karin Beier jetzt am Hamburger Schauspielhaus uraufgeführt hat. „Lärm. Blindes Sehen. Blinde sehen!“ heißt es und ist nicht im konventionellen Sinn ein Theaterstück, sondern ein etwa 80-seitiger Fließtext. Ohne Handlung, Figuren, Dialoge oder Verortungen.
Es ist eine assoziative Sammlung aus dem schockstarren Pandemiejahr und den damit einhergehenden Ängsten, Beschränkungen und Bevormundungen. Ein Text über das pausenlose Pandemie-Gerede in den Medien, über Verschwörungstheorien und Wahrheiten, über Skisport und Bill Gates, über Impfversuche und Masken – angesiedelt zwischen Wut und Ironie, zwischen Zitaten und Zuschreibungen, zwischen Realität und Fiktion, zwischen Schlachtbetrieben und Homers Odyssee.
Es ist ein uneindeutiger Text. Als Bühnenadaption eine Herausforderung – und vermutlich ein großer Reiz. Karin Beier schickt Jelineks Textgewitter zunächst ganz pur in den tiefschwarzen Theatersaal. Hörspielartig kommen Stimmen aus allen Richtungen, einzeln, gesampelt oder von den Schauspieler*innen im Chor gesprochen, werden unterfüttert mit Original-Wortfetzen aus Talkshows oder Regierungsansprachen.
Après-Ski mit Blechbläsern
Konsequent lässt Beier das Publikum den titelgebenden, kakophonischen Lärm erfahren, der bald „brüllend auf uns zustürzt“. Erst nach diesem 20-minütigen Intro verortet sie die Inszenierung auf der Bühne in ein „Ischgl“, in eine großartige, holzmassive Après-Ski-Hütte mit Bänken, Barhockern und Tresen (Bühne: Duri Bischoff). Dort posieren die acht Darsteller*innen (Josefine Israel, Jan-Peter Kampwirth, Eva Mattes, Angelika Richter, Lars Rudolph, Maximilian Scheidt, Ernst Stötzner und Julia Wieninger) in schillernden Daunenjacken, verspiegelten Skibrillen und kunstfelligen Moonboots (Kostüme: Wicke Naujoks).
„Lärm. Blindes Sehen. Blinde Sehen!“, Schauspielhaus Hamburg, weitere Aufführungen am 10., 11. und 19. Juni
Sie lärmen stammtischwütend, während über vier Bildschirme Politikervisagen flirren, sie tanzen zu Live-Blechbläsern, die – mit harten Beats verstärkt – Russendisko-Stimmung machen (Komposition und musikalische Leitung: Jörg Gollasch).
Sie tragen mal Lederhosen, mal antike Flattergewänder, mal Pelzmützen oder Schweinemasken, mal sind sie Besserwisser, mal Dauer-Händewascher, mal Superman-Ärzte. Sie simulieren Atemnot, performen eine Skimodenschau und tanzen Sirtaki, während Schneegestöber, Filme von Black-Lives-Matter-Demonstrationen, Tellerliften oder Schweineschlachtungen über die Bildschirme flirren (Video: Severin Renke).
„Die Bar brodelt nur so. Viren tanzen Polka“, heißt es einmal im Text. Auf der Bühne tobt die Partystimmung so oft vor und zwischen Schweinehälften, dass alle Noch-nicht-Vegetarier im Saal es spätestens nach der Premiere geworden sein dürften.
Kirke und die Schweine
Beier findet viele und viele drastische Bilder zu Jelineks Text. Sie sprengt ihn förmlich auf. Sie lässt die großartige Eva Mattes als summende Kirke einen Schweinekopf zerlegen und ihre Zauberkräfte mit einem Gartenschlauch versprühen, lässt Lars Rudolph als verwirrten China-Panda auftreten und Ernst Stötzer – „Ewig hält Aufgeblasenes aber nicht … die Luft ist bald raus, auch aus Ihren Lungen“ – eine erschlaffte Sexpuppe in den Armen halten. „Männerdienstreisen heute und damals“, kommentiert Julia Wieninger die irritierenden Parallelschnitte zwischen Ischgl-Ekstase und Odysseus’ Stopover bei der Zauberin Kirke, die laut Epos die Gefährten des Helden in Schweine verwandelte.
Am Ende der Bilderflut ist die Skihütte aus den Fugen. Dann konzentriert sich Beier auf gekonnte, atemlose Stimmcollagen und angst- und kunstvolle Monologe (Josefine Israel! Julia Wieninger!). Insgesamt zückt die Regisseurin an diesem Abend das ganz große Besteck. Und doch bleibt am Ende eine merkwürdige Leere zurück.
Jelineks Jahresrückblick wirkt trotz seiner vermeintlichen Aktualität schon wieder verjährt, der darin beabsichtigte Verzicht auf eine eindeutige Haltung hinterlässt vor allem Ratlosigkeit. Und: Was war eigentlich noch mal die These der Regisseurin dazu? Sichtbar geworden ist sie an diesem Abend nicht. Oder bin ich blind?
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