„Jeder schreibt für sich allein“: Literarische Salonnazis
Der neue Dokumentarfilm von Dominik Graf handelt von Autoren in der NS-Zeit. Mit Fragen zu Werk und Autor*in schließt er an die Gegenwart an.
Flackernde Schwarz-Weiß-Aufnahmen einer Stadt. Ein Kirchturm in der Totalen, aus dem Glockenschläge ertönen. Ein Reichsadler in Nahaufnahme, drei Männer in Kitteln, die sich in einer Fabrik geschäftig über ein Geländer beugen. Ein Sprecher verkündet in abgehacktem Befehlsdeutsch: „Deutsch die Uhr, deutsch der Klang!“
Schnitt ins Jetzt. Die Hände eines Mannes, die im gleißenden Sonnenlicht an einem Schreibtisch in ein Notizbuch schreiben. Sie gehören zu Anatol Regnier, der 2021 ein Buch über das Werk und Leben von deutschen Schriftsteller*innen im NS-Regime publizierte. Mit diesem Buch, sagt die Erzählerstimme, während das ruhige Wasser eines Sees erscheint, habe Regnier „uns den Blick auf eine Katastrophenlandschaft geöffnet“. Es sei der Versuch, „von historischen Überresten auf die vergangene Wirklichkeit zu schließen“.
Der dokumentarische Essayfilm von Dominik Graf ist wiederum der Versuch, das Buch in eine audiovisuelle Form zu übersetzen. Ein Versuch über einen Versuch, das könnte schiefgehen. Doch Graf, bekannt für seine Experimentierfreude, ist der Richtige hierfür – zeigte doch sein jüngstes Werk, der auf Erich Kästners Roman „Fabian“ basierende Spielfilm „Fabian oder Der Gang vor die Hunde“ (2021), dass sich historische Fakten und literarische Vorlagen auch fragmentarisch darstellen lassen, ohne an Tiefe, Glaubwürdigkeit oder den Blick auf Zusammenhänge einzubüßen.
Ähnlich ist es bei „Jeder schreibt für sich allein“. Die knapp dreistündige Doku wechselt immer wieder von Fragment zu Fragment. Das Bild des ruhigen Sees verwandelt sich in grafische Formen, die in- und auseinandermorphen, bis Archivvideos von den Nürnberger Prozessen erscheinen, bei denen ab dem 20. November 1945 die Hauptkriegsverbrecher des Nationalsozialismus angeklagt wurden.
Psychologische Methoden
Die Formen sind Visualisierungen von Rorschachtests, eine der psychologischen Methoden, mit denen der US-Psychiater Douglas McGlashan Kelley den psychischen Zustand der dort angeklagten Nazis untersuchte. Er fragte sich: Wie, warum und unter welchen Umständen sind Menschen zu derartigen Massenmorden fähig und wie ließe sich das in Zukunft verhindern? Am Ende fand er kaum aussagekräftige Ergebnisse. Kelly suchte das Böse im Menschen, fand aber: nichts. Noch unheimlicher war seine Schlussfolgerung, die an die berühmte Phrase von der „Banalität des Bösen“ der Philosophin Hannah Arendt erinnert: Wenn es keine eindeutig messbaren Ursachen für Antisemitismus oder Rassismus gibt, können Nazis jederzeit unbemerkt unter uns leben.
Empfohlener externer Inhalt
Trailer „Jeder schreibt für sich allein“
Wenig präsent waren damals auch die deutschen Schriftsteller*innen, von denen sich einige nie eindeutig vom NS-Reich distanzierten, allen voran Gottfried Benn. Er verteidigte zu Beginn der NS-Herrschaft mit dem Essay „Züchtung“ nationalsozialistische Ideen, auch wenn er weniger dessen Biologismus feierte als die Chance, im Faschismus die Kunst als „letzte metaphysische Tätigkeit des Menschen“ zu heiligen.
„Jeder schreibt für sich allein“. Regie: Dominik Graf. Deutschland 2022, 169 Min.
Im Gegensatz zu seinen Kollegen Heinrich und Thomas Mann oder Alfred Döblin ging Benn nicht ins Exil und blieb der Sektion Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste als Mitglied treu, wie die Autorin Julia Voss erzählt. Sie ist neben dem Historiker Christoph Stölzl oder dem Autor Florian Illies eine von angenehm wenigen Talking Heads. Empathielos seien Autoren wie Benn gewesen und hätten sich durch den Flirt mit dem Regime eine große Karriere versprochen – doch das war nur Mitgliedern jener Akademie möglich, die ab 1933 vom regimetreuen Hanns Johst geleitet wurde.
Erich Kästner lavierte sich durch
Während der Autor Johst, der „Barde der SS“, Gleichgesinnte um sich scharte, distanzierte sich Benn recht schnell von seinem Essay. Die auf die Ideen folgende echte physische Gewalt gegen Jüd*innen und Andersdenkende ging ihm zu weit. Von Thomas Manns Schmähung, nach der allen im NS-Reich zwischen 1933 und 45 publizierten Büchern der „Geruch von Blut und Schande anhaftet“, blieb er aber nicht verschont. Erich Kästner wiederum, der trotz symbolischer Vernichtung seiner Bücher bei der Bücherverbrennung 1933 nicht das Land verließ, lavierte sich durch. Es heißt, er sei, wie der Berliner Kultautor Hans Fallada, in die „innere Emigration“ gegangen.
Das alles ist historisch nicht neu, zumal die NS-Zeit eine der am gründlichsten erforschten Epochen ist. Doch hier ist weniger das Was als das Wie entscheidend. Vor allem moralisiert Graf in seinem Film nicht. Er zeigt die Autor*innen im historischen Kontext, statt sie mit Gratismut zu verurteilen. Was nicht bedeutet, dass der Blick auf das Jetzt fehlte.
Oft hüpfen Aspekte wie Sprungfedern ins Heute. Nur zwei Beispiele: Rechtsextremes Denken wird, auch mit der demokratischen „Normalisierung“ der AfD, wieder salonfähig und auch der Diskurs über die Trennung von Werk und Autor*in ist aktueller denn je – und wird heute insbesondere aus postkolonialer oder LGBTQ+-Perspektive vorangebracht. Nun ist die NS-Zeit nicht direkt vergleichbar, jedoch ließen sich Gottfried Benn und die Frage, ob er noch gelesen werden sollte, als Entsprechung zu J. K. Rowling lesen, deren Bücher von manchen boykottiert werden, seitdem die Autorin gegen trans Personen wettert.
Graf verstaut die Thematik nicht in der Schublade, sondern lässt sie offenstehen. Und das nicht obwohl, sondern weil die Form – der spielerische Musik-, Bild- und Erzähleinsatz – den Inhalt, oder besser gesagt die Lesart des Inhalts maßgeblich bestimmt. Der Film ist so auch eine Hommage an die Schöpfungs-, aber auch Zerstörungskraft von Kunst, die eben nicht nur als Spiegel, sondern als Treiber von Kultur verstanden wird. Das Fragmentarische ist die perfekte Form für besagte historische Überreste. Denn die Faszination des Fragments führt, von Nahem betrachtet, zum Pathos der Ruine, aus der Distanz gesehen.
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