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Archiv-Artikel

Immer streng dekonstruktivistisch: Anthony Coleman im Westwerk Jazz ist ihm nicht geheuer

Wenn er heute im Westwerk auftritt, begrüßt Anthony Coleman das Publikum in seinem „Hamburger Wohnzimmer“, wie es in dieser Zeitung einmal genannt wurde. Denn von den zahlreichen Gastspielen, die der New Yorker in den vergangenen beinahe zwei Jahrzehnten in der Hansestadt gab, trugen sich die meisten im besagten Schmuckstück zu. Zuletzt blieb er länger und hatte sogar ein richtiges Wohnzimmer ein paar Häuser die Admiralitätsstraße runter: Im Herbst 2002 war Coleman für zwei Monate als „Artist in residence“ in Hamburg, eingeladen von der Kulturbehörde auf Initiative des Westwerks.

Coleman ist nie zum Star geworden, in keinem der zahlreichen Szenen und Genres, die er als Komponist, Improvisateur oder bloßer Ausführender gestreift oder durchquert hat. In der Tat haben ihn Leute daheim im Plattenregal stehen, die es gar nicht wissen mögen, denn nur der kleinere Teil seiner Aktivitäten ist unter seinem Namen veröffentlicht worden – einen „Sideman der Avantgarde“ nannte ihn Felix Klopotek einmal.

1979, frisch vom College, lernte Coleman nicht nur Downtown-Impresario Zorn kennen, mit dem er seitdem immer wieder zusammengearbeitet hat. Sondern überdies Glenn Branca, den Wagnerianer unter New Yorks zweiter Minimalisten-Generation und Mäzen der frühen Sonic Youth – deren zweiter Gitarrist Lee Ranaldo wiederum wohnte zeitweise in Colemans Nachbarschaft, und „unsere Kinder sind auf dieselbe Schule gegangen“. Bis heute teilt sich Coleman die Postadresse mit John Zorn und dem Experimental-Gitarristen Elliott Sharp – in einem Haus, das gelegentlich von japanischen Touristen in Augenschein genommen wird.

Regelmäßig firmiert Coleman als „Jazzpianist“, was ihm nicht behagt. Der 1955 Geborene studierte Piano und Komposition, machte in beiden Disziplinen seinen Abschluss und will schon deshalb nicht auf besagtes Instrument reduziert werden. Überhaupt habe er die ersten zehn Jahre in New York „das Klavier kaum angerührt“. Stattdessen spielte er auf kaputten Orgeln, bald darauf kam der Sampler hinzu. Aber auch die Sache mit dem Jazz ist ihm nicht ganz geheuer: „Ich habe mich nie als Teil davon betrachtet. Wenn du mich fragst, was heute so los ist im Jazz, dann kannst du genauso gut fragen, wie die Dinge in der Metropolitan Opera stehen.“ Was auch mit Koketterie zu tun hat: So hat Coleman sich immer wieder in Formationen betätigt, wie sie auch und gerade im Jazz üblich sind, etwa Trios aus Bass, Schlagzeug und Klavier; Jazz dient ihm dabei aber allenfalls als Ausgangspunkt für eine Reise in nicht zwingend benachbarte Felder. So widmete er sich mit Sephardic Tinge – immer streng dekonstruktivistisch – den musikalischen Traditionen der sephardischen Juden; auch, um zu belegen, das Klezmer längst nicht alles ist, was „Radical Jewish Culture“ – so der Titel eines von John Zorns musikhistorischen Projekten – sein kann. Diesmal spielt Coleman Klavier – ohne Begleitmusiker –, und nicht ganz klar wurde im Vorfeld, welches Programm zwischen pseudofolkloristischem Schwung, Avantgarde-Sprödheit und, nun ja, Jazz-Spielfreude er mitbringt. Eine Empfehlung wert sind seine Auftritte aber allemal. Alexander Diehl

Donnerstag, 21 Uhr, Westwerk