Japan: Ein Land vergisst sich selbst
Der Rücktritt von Premier Abe ist nur ein Symptom für eine tief verunsicherte Gesellschaft: Japan erhält die Quittung für seine stolze Geschichtsvergessenheit.
Auf den ersten Blick sieht alles ganz harmlos aus: Wieder einmal ist ein japanischer Premierminister nach kurzer Amtszeit zurückgetreten. Shinzo Abe war nur 12 Monate im Amt. Innerhalb dieser kurzen Zeit stürzten fünf seiner Minister über Skandale, einer von ihnen verübte sogar Selbstmord. Aber gemessen an 52 Jahren fast ununterbrochener Regierungszeit der Liberaldemokratischen Partei (LDP) fällt Abes Bilanz kaum aus dem Rahmen. Skandale hatte seine Partei schon immer. Allein in der 90er-Jahren verbrauchte Japan sieben Premierminister. Die große Ausnahme machte Abes Vorgänger Junichiro Koizumi, der Japan stolze fünf Jahre regierte. Nicht so Abe.
Und trotzdem markiert Abes kurze Regierungszeit einen Wendepunkt der japanischen Nachkriegsgeschichte. Er schaffte es, drei wichtige Gesetze durchs Parlament zu bringen. Mit einer Revision des Erziehungsgesetzes verpflichtete er alle Schulen und Lehrer auf eine patriotische Grundhaltung. Er verwandelte die vorherige "Selbstverteidigungsbehörde" per Gesetz in ein regelrechtes Verteidigungsministerium. Und er schuf ein Gesetz, dass in Zukunft eine Volksabstimmung über den Fortbestand der 1947 von den Amerikanern geschriebenen Friedensverfassung möglich macht.
Abe unterschied sich also von den vielen austauschbaren Nachkriegspremiers. Er gab eine klare national gesinnte Richtung vor. Sein Slogan lautete: "Schönes Land Japan". So hieß auch sein Bestseller im vergangenen Jahr. Er wollte die Japaner stolz auf ihr Land machen. Dafür, so glaubte er, sei eine starke Armee notwendig, eine kaisertreue Schulerziehung und eine neue Verfassung, die dem Land wieder militärische Einsätze erlauben würde.
Das Projekt "Schönes Land" ist mit Abes Rücktritt erst einmal gescheitert. Die meisten Japaner können den Spruch nicht mehr hören: Er steht inzwischen für die Arroganz der Politik, die hehre Ziele verfolgt, sich aber um die Alltagssorgen der Menschen nicht kümmert. Allerdings ist diese Unzufriedenheit nicht mit politischer Opposition zu verwechseln. Und Opposition gegen Abe gab es bisher kaum.
Längst ist die japanische Jugend von einem unbekümmerten Nationalismus beseelt. Das wirkt auf den ersten Blick ähnlich locker und fröhlich wie der neu entdeckte deutsche "Fähnchenpatriotismus" während der Fußball-Weltmeisterschaft in Deutschland. Auch in Japan malen sich jetzt die Jugendlichen gern den Sonnenbanner auf die Wangen und singen zusammen mit Popstars die Nationalhymne im Fußballstadion. Die altmodische Melodie der alten kaiserlichen Hymne passt zwar überhaupt nicht zur Popshow. Doch das stört niemand. Genauso wie niemand fragt, ob der Hymnentext, der dem Tenno ewige Glorie wünscht, heute für internationale Sportveranstaltungen geeignet ist.
Viele junge Japaner ahnen nicht einmal, dass ihre Fahne in vielen asiatischen Ländern bis heute unbeliebt, wenn nicht gar verhasst ist. Es ist diese Geschichtslosigkeit, die den japanischen Fähnchenpatriotismus vom deutschen unterscheidet.
Japanische Professoren beklagen heute, dass viele ihrer Studenten nicht einmal wissen, gegen welche Länder Japan im Zweiten Weltkrieg Krieg führte. Das war vor ein paar Jahren noch unvorstellbar. Trotzdem kritische Beobachter aus dem Ausland schon immer die eher oberflächliche Vergangenheitsbewältigung in Japan beklagten, bezog die Nachkriegsgeneration doch insgesamt eine selbstkritische Haltung. Sie ließ keine Kritik an der Friedensverfassung zu und duldete keine gesellschaftliche Rolle des Militärs. Besonders China gegenüber zeigte sie stets ein schlechtes Gewissen und hielt sich mit jeder Kritik an der Volksrepublik zurück. Später gab es dann auch in Japan eine intellektuell einflussreiche 68er-Generation, die, aufgeweckt durch die Opposition zum Vietnamkrieg, die eigene Kriegsvergangenheit radikal kritisierte. Sie blieb zwar weniger einflussreich als in Deutschland, vermochte aber über Jahrzehnte dennoch die Themen der Vergangenheitsdiskussion in Japan zu setzen.
Erst die heute junge Generation denkt vollkommen anders. Sie kennt den Krieg nur noch aus Computerspielen und findet die Friedensverfassung uncool. Sie hat keine Vorstellung mehr von den Opfern, die Japans Invasion in Asien im Zweiten Weltkrieg kostete. Sie kennt nur ein homogenes, friedfertiges Japan, das mit Konflikten in anderen Teilen der Welt nichts zu tun hat. Sie nimmt die alte Kriegsfahne in die Hand und sagt: Warum nicht? Es geht doch nur um Spaß!
Diese Einstellung wurde in den letzten Jahren von konservativen Politikern, Medien und Intellektuellen bewusst geschürt. Man war durch die lange Wirtschaftsrezession der 90er-Jahre verunsichert. Man suchte verzweifelt nach Orientierung. Und fand sie nicht zuletzt auch in einem neuen Feindbild: China.
Die neue Manga-Generation, also die vielen jungen Comicleser, hat dieses Feindbild als Erste entdeckt: in einer bekannten Manga-Serie von Yoshinori Kobayashi, die alle Probleme in Japan auf die Konkurrenz mit China zurückführt. Die Serie war einst der Startschuss für die inzwischen längst in allen Medien salonfähige, einseitige, niveaulose Chinakritik, frei von jeder Geschichtsdiskussion.
Der wohl wichtigste Katalysator für den zunehmenden Revanchismus war Abes Vorgänger Junichiro Koizumi. Koizumi war zwar kein überzeugter Nationalist oder Chinafeind, aber er war ein rücksichtloser Populist, der sich herausnahm, jedes Jahr den umstrittenen Yasukuni-Schrein in Tokio zu besuchen. Der Schrein ehrt auch die Seelen der vom internationalen Kriegsgerichtshof verurteilen japanischen Kriegsverbrecher - wer ihn besucht, legitimiert zumindest aus chinesischer und koreanischer Sicht die japanischen Kriegsverbrechen in diesen Ländern. Aber Koizumi störte das nicht, er gab vor, aus Mitleid für alle Kriegsopfer den Schrein zu besuchen. Die meisten Japaner fanden das toll. Sie freuten sich, dass Koizumi dem großen China nicht gehorchte.
Koizumis Tabubruch aber machte schnell Schule. Bald fingen Japans konservative Politiker an, all das offen zu sagen, was sie immer schon dachten, aber nicht zu sagen wagten. Ein Minister sagte, Japan solle Atomwaffen entwickeln. Ein anderer behauptete, Japan hätte im Zweiten Weltkrieg nur einen Verteidigungskrieg geführt. Früher hätten die Minister für solche Aussagen zurücktreten müssen. Heute nicht mehr. Die Medien berichten schon kaum mehr über den alltäglich gewordenen Revisionismus der Politik.
Abe war schon seit Jahren der Anführer der Revisionisten. Er empfand die Geschichtsschreibung in den Schulbüchern als selbstverachtend. Er versuchte, die Geschichte der sogenannten comfort women - der Frauen, die von der japanischen Armee systematisch vergewaltigt wurden - aus den Schulbüchern streichen lassen. Als Abe vor einem Jahr zum Premier aufstieg, war er der Hoffnungsträger des nationalistischsten Flügel der LDP.
Indessen trauert heute kaum jemand um ihn, selbst seine politischen Freunde nicht. Er hat sich als führungsunfähig bewiesen, obwohl er aus einer der elitärsten Politikerfamilien Japans stammt. Sein Großvater war Premierminister, sein Vater Außenminister, und genau das beschreibt das Problem der LDP: Selbst Abes mögliche Nachfolger sind allesamt Politikersöhne, die nie eigenen Führungsstärke entwickeln mussten, um in ihre Ämter zu kommen. Auch Japans stärkste Oppositionspartei, die Demokratische Partei, verfügt nur über eine schwache Führung, deren Mitglieder ursprünglich meist aus der LDP stammen. Die politische Grundausrichtung unterscheidet sich deshalb kaum.
Es ist also kaum zu erwarten, dass der nationalistische Trend in Japan mit dem Rücktritt Abes umkehrt wird oder gar zum Halten kommt. Solange China weiter an Macht gewinnt und Japan unter dem Einflussverlust leidet, solange die Japaner mit der eigenen Vergangenheitsbewältigung nicht weiterkommen, solange die Politik keine Alternativen bietet - solange erscheint der Nationalismus als einzige ideologische Stütze der Gesellschaft.
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