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Jane Austen und die GeschlechterrollenNeue Frauen an der Seitenlinie

In „Überredung“ blickt Jane Austen auf ein neues Geschlechterverhältnis. Womöglich hat ihr letzter Roman eine heimliche, uneingestandene Heldin.

Erstarrte Konventionen auf dem Land, offene Emotionalität an der See: englische Promenade Foto: Dorset Museum/Avalon/imago

Zu Beginn von Jane Austens letztem, 1818 veröffentlichtem Roman „Überredung“ ist die Heldin Anne Elliot von konventionellen Frauenbildern regelrecht umstellt. Ihre Schwestern Elizabeth und Mary führen als Angehörige des Landadels ein rein dekoratives Leben. Während Elizabeth an der Stelle ihrer verstorbenen Mutter die Honneurs macht und dabei viel Geld ausgibt, zieht sich Mary, die den Sohn eines benachbarten Gutsbesitzers geheiratet hat, immer dann klagend und vorwurfsvoll auf ihre Couch zurück, wenn sie nicht durch Einladungen oder spontanen Besuch unterhalten wird.

Foto: imago
Die Jane-Austen-Woche der taz

Am 16. Dezember gibt es den 250. Geburtstag der Autorin Jane Austen zu feiern, die als Frau zunächst nur heimlich schreiben konnte und eine große Klassikerin der Weltliteratur wurde. Die taz begeht dieses Jubiläum mit einer Jane-Austen-Woche: Täglich beleuchten wir einen Aspekt ihrer Werke. Alle erschienenen Texte finden Sie hier.

Die beiden Schwestern repräsentieren eine Schwundstufe des traditionellen Gutsherrinnen-Ethos, das die privilegierte Stellung des Landadels durch paternalistische Fürsorge für die Untergebenen zu legitimieren versucht. Mit Fürsorge aber mögen sich Elizabeth und Mary nicht mehr abgeben und führen stattdessen, ebenso wie Vater und Ehemann, ein Leben des luxuriösen Müßiggangs.

Lady Russell wiederum, die Freundin von Annes früh verstorbener Mutter, beruft sich zwar gern auf die Werte ihres Standes, fährt aber lieber in der Kutsche über Land, als diesen Werten zur Realität zu verhelfen.

Die US-amerikanischen Literaturwissenschaftlerinnen Sandra M. Gilbert und Susan Gubar, psychoanalytisch informierte Gründermütter der feministischen Literaturwissenschaft, haben in ihrem Grundlagenwerk von 1979 „The Madwoman in the Attic“ („Die Verrückte in der Dachkammer“) auf die Schwierigkeiten hingewiesen, die sich den frühen Romanschriftstellerinnen wie etwa Jane Austen entgegenstellten. Weibliche Autorschaft bedeutete an sich schon eine Grenzüberschreitung, weil das Schöpferische als Domäne des Mannes galt. Entsprechend umstritten waren die Produkte weiblicher Schöpfung.

Aspekte, die als suspekt galten

Gilbert und Gubar vertreten die Auffassung, dass die Autorinnen des 19. Jahrhunderts solche Aspekte ihrer selbst (und ihrer Hauptfiguren), die ihrer Gesellschaft als suspekt galten, in die Nebenfiguren ihrer Romane projizierten. Anhand von Charlotte Brontës Roman „Jane Eyre“ zeigen sie ausführlich, wie die Wut der Schriftstellerin (und ihrer Heldin) über die patriarchalen Verhältnisse, in denen zu leben sie gezwungen sind, ihren Ausdruck in dem Schreien und Toben der Nebenfigur Mrs. Rochester findet, die von ihrem Ehemann wegen ihres Wahnsinns ins Dachgeschoss gesperrt worden ist. Die Romanheldin erfüllt derweil mit vollendeter Selbstbeherrschung ihre Pflichten.

Letzteres ist, wenn auch fragil geworden, auch in Jane Austens Roman „Überredung“ so. Die empfindsame Anne Elliot lebt noch gemäß den traditionellen Werten des Landadels, bleibt damit aber allein. Als unverheiratete Frau steht sie ohnehin am Rande der Gesellschaft, deren Leben sich weitgehend paarweise vollzieht. Für die Bälle in London ist Anne inzwischen zu alt, bei Tanzabenden in der Verwandtschaft spielt sie Klavier, und im Haus ihrer Schwester Mary lässt sie sich deren Aufgaben aufladen.

Nun kommen aber neue Figuren ins Spiel. Der Landadel hat auch wirtschaftlich seine besten Zeiten hinter sich, und die Romanhandlung beginnt damit, dass Annes Vater das angestammte Herrenhaus vermieten muss, um seine Schulden zu bedienen. Der neue Mieter ist ein Admiral Croft, der an der Schlacht von Trafalgar teilgenommen hat und sich nun, nach dem Ende der Napoleonischen Kriege, auf dem Land zur Ruhe setzen will. Sein Schwager, Kapitän Frederick Wentworth, ist bei der Marine reich geworden, weil die Schiffsführer, wenn sie ein feindliches Schiff kaperten, dessen Ladung behalten und zu Geld machen durften.

Autorinnen des 19. Jahrhunderts projizierten rollenkritische Aspekte in die Nebenfiguren

Ebendieser Frederick Wentworth hatte vor neun Jahren eine Liebesbeziehung mit Anne und wollte sie heiraten. Der junge Mann hatte weder Geld noch war er von Stand – Anne wies ihn ab. Der Roman handelt davon, wie Anne Elliot ihren einstigen Bewerber zurückgewinnt.

Dem Admiral in die Zügel greifen

Zusammen mit Admiral Croft betritt auch seine Frau die Szene. Sie war, Krieg hin oder her, meist mit ihm zusammen auf See und sieht ebenso wettergegerbt aus wie er. Zurück an Land, beteiligt sie sich mit aller Selbstverständlichkeit an den Pachtverhandlungen für das Herrenhaus. Ihr Mann wiederum interessiert sich auch für häusliche Dinge. Gemeinsam fahren die Eheleute mit dem Einspänner über Land, und wenn auf dem Weg ein Hindernis auftaucht, greift die Gattin dem Admiral beherzt in die Zügel.

Anders als die in Konventionen erstarrten Landadligen reden die Angehörigen der neuen, quasibürgerlichen Schicht der Marineangehörigen ohne jede Umschweife miteinander und zeigen offen ihre Gefühle. Eine erzählerische Ironie liegt darin, dass Freunde der Crofts Annes Cousine Louisa nach einem schweren Unfall wie selbstverständlich in ihrem Haus pflegen und damit genau die Fürsorge zeigen, die dem Landadel neuerdings abgeht.

Anne fühlt sich von der Lebensweise und den Ansichten der Marineangehörigen spontan angezogen und übernimmt deren zugewandte Emotionalität und Offenheit in ihr eigenes Wertesystem. Die Erzählerin begleitet diesen Prozess mit einer Innensicht der Figur, die in der zeitgenössischen Literatur ihresgleichen sucht. Über weite Strecken sehen die Le­se­r:in­nen die Welt durch Annes Augen. Sie teilen ihr Bewusstsein, während Anne sich in der Auseinandersetzung mit der Lebensweise der Marineangehörigen einen eigenen Weg sucht.

Was Anne von den Marineangehörigen nicht übernimmt, ist die kameradschaftliche Gleichberechtigung in deren Ehen. Zwar hat sie nach dem Unfall Louisas spontan die richtigen Maßnahmen ergriffen und dabei gezeigt, dass sie durchaus auch Anweisungen geben kann. Aber gegenüber Frederick Wentworth, der vom weiblichen Geschlecht „Festigkeit des Herzens und Anmut im Betragen“ verlangt und sich im Übrigen strikt gegen die Anwesenheit von Frauen auf den Schiffen der Marine ausspricht, verhält sich Anne ganz und gar gemäß dem konventionellen Frauenbild ihrer Gesellschaft. Als Mrs. Wentworth wird sie ihrem Ehemann ganz sicher niemals in die Zügel greifen.

Herausforderung für die Leserschaft

Wie lässt sich das Festhalten Annes und ihrer Schöpferin Jane Austen am traditionellen weiblichen Rollenbild erklären? Hätte eine Selbstermächtigung im Stil Mrs. Crofts die Anlage der Anne-Figur als empfindsamer Romanheldin durchkreuzt? Ganz sicher wäre eine Hauptfigur mit Zügen der Admiralsgattin für die zeitgenössische Leserschaft, männlich wie weiblich, eine Herausforderung gewesen.

An dieser Stelle lässt sich noch einmal an Sandra M. Gilbert und Susan Gubar denken. Auch für Jane Austens Roman „Mansfield Park“ hatten sie das Muster aufgezeigt, auf die Nebenfiguren zu schauen. In „Mansfield Park“ wird die Hauptfigur Fanny Price, die sich ständig bemüht, es allen recht zu machen, von der Nebenfigur Mrs. Morris konterkariert, die sich ihre Umgebung mithilfe ihrer Ränkespiele zu Willen macht. Und sich damit eine ähnliche Handlungsmacht herausnimmt wie eine Romanschriftstellerin, die über das Schicksal ihrer Figuren verfügt.

Nach dieser Lesart wäre die den Mietvertrag mitverhandelnde und die Kutsche mitsteuernde Mrs. Croft die heimliche Heldin von „Überredung“, das uneingestandene Vorbild Anne Elliots und eine Identifikationsfigur für Jane Austen, die als Kind hinter ihren Brüdern zurückstehen musste und als unverheiratete Frau von deren materiellen Zuwendungen abhängig war. Die ihre Romane zunächst anonym veröffentlichte und mit ihnen erst spät im Leben ein eigenes Einkommen erzielte.

Als Autorin aber nahm sich Jane Austen die Freiheit, im Medium der Fiktion die Geschlechterordnung ihrer Zeit infrage zu stellen und einen Ausblick zu eröffnen auf ein mögliches neues Geschlechterverhältnis, dessen Verwirklichung noch weit in der Zukunft liegen sollte.

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