piwik no script img

Aus taz FUTURZWEI

Ivan Krastev über deutsche Überraschung Irrtum Normalität

Der europäische Denker Ivan Krastev über die permanente Überraschung der Deutschen, wenn schon wieder was passiert, was ihnen nicht in den Kram passt.

»Wir sind komplett gefangen von der Welt des Normalen«: Ivan Krastev Foto: Helene Bamberger/Laif

taz FUTURZWEI: Lieber Herr Krastev, wenn wieder was Schlimmes passiert in der Welt, sind wir Deutsche jedes Mal aufs Neue überrascht davon. Als die Taliban die Macht in Kabul zurückeroberten, sagte der damalige Außenminister Heiko Maas, er sei total überrascht. Als Putin die Ukraine überfiel, sagte die heutige Außenministerin Baerbock, sie sei und wir alle seien in einer anderen Welt aufgewacht. Was ist das für eine politische Figur, ständig überrascht zu sein?

Ivan Krastev: Das ist eine großartige Frage, auf die es drei verschiedene Antwortmöglichkeiten gibt. Die erste Möglichkeit ist, dass sie ehrlich überrascht sind. Während wir ständig davon sprechen, wie sehr sich die Welt ändert, sind wir doch komplett gefangen von der Idee des Normalen. In diesem Fall ist man überrascht, weil man im Grunde nicht versteht, warum etwas passiert ist. Die zweite Möglichkeit ist, dass sie die Überraschung spielen.

IVAN KRASTEV

Der Mann:

Politikwissenschaftler, Berater und Publizist, Experte für EU, Osteuropa, Zukunft von Demokratien. Leitetdas »Centre for Liberal Strategies« in Sofia und arbeitet am »Institut für die Wissenschaften vom Menschen« in Wien.

Geboren 1965 in Lukovit, Bulgarien

Das Werk:

Das Licht, das erlosch (gemeinsam mit Stephen Holmes; Ullstein 2019) gehört zu den essenziellen Büchern zum Verständnis der Gegenwart. Darin erklärt Krastev, warum der Liberalismus nach dem Ende des Sozialismus 1989 eben nicht gesiegt hat, sondern zum Feindbild von neuen Gegnern und zum Nährstoff populistischer Bewegungen wurde – außerhalb und innerhalb der eigenen Demokratien.

Wozu?

Das ist ein taktischer Schachzug, mit dem sie etwas Zeit gewinnen wollen. Die dritte und interessanteste Möglichkeit, und das war teilweise in der Reaktion auf Kabul so und besonders in der Reaktion auf die ukrainische Krise: Wir sind nicht nur überrascht darüber, was die anderen tun. Wir sind überrascht von uns selbst. Die Entscheidung der Deutschen für die Lieferung schwerer Waffen war eine große Überraschung für die Welt – und für Deutschland selbst.

Wir fassen zusammen: Es gibt also gespielte und echte Überraschung, und bei letzterer die über andere und die über einen selbst.

Ja. Es ist eigentlich immer so, dass man nicht richtig versteht, was die anderen tun. Wir glauben fest, dass die anderen in den Vernunftkategorien denken und handeln, die wir selbst anlegen. Speziell in Europa haben wir lange Zeit mit Annahmen gearbeitet, die wir infrage stellen müssen. Zum Beispiel haben wir uns selbst überzeugt, dass ökonomischer Wohlstand der Leute so wichtig ist, dass keine Regierung irgendetwas täte, was ihre ökonomische Entwicklung schwächt. Russlands Invasion der Ukraine war eine Überraschung, weil wir dachten, die ökonomischen Kosten seien zu hoch.

Im Fall der Taliban war es so, dass die Deutschen sagten: Also das kommt jetzt so überraschend, da können wir nichts machen.

Beide Fälle, Kabul und Ukraine, sind seltsame Geschichten der Überraschung, denn wir hätten nicht davon überrascht sein dürfen. Die amerikanische Regierung hatte lange angekündigt, dass sie sich aus anderen Orten zurückziehen und sich auf China konzentrieren würden. So gesehen hätten wir allenfalls überrascht sein dürfen, wie schnell die strategische Repositionierung passierte, aber nicht, dass sie passierte.

Am Tag nach dem russischen Überfall sagte Außenministerin Annalena Baerbock, wir seien »in einer anderen Welt aufgewacht«. Die war demnach auch total überrascht.

Das ist etwas anders. Ein solches Statement macht man nicht, um zu sagen, dass man überrascht ist, sondern man bittet die Leute, ab sofort in völlig anderen Zusammenhängen zu urteilen. Das Problem besteht darin, wie man den Leuten glaubhaft sagt, dass die Welt sich total verändert hat, wenn man das bei jeder größeren Krise immer wieder sagt. Die Welt hat sich nach 9/11 verändert, nach der Finanzkrise, mit der Flüchtlingskrise, die Welt hat sich nach Covid verändert. Die Politiker sind paradoxerweise in einer seltsamen Lage, in der sie den Leuten ständig zu sagen versuchen, dass das nicht mehr nachhaltig ist, was wir für normal halten. Und die Leute glauben das nicht. So gesehen bedeutet der Satz, wir seien in einer anderen Welt aufgewacht, dass es keinen Weg zurück zur alten Normalität gibt. Das ist aus meiner Sicht von zentraler Bedeutung, und deshalb gibt es einen großen Unterschied zwischen Kabul und der Ukraine.

Nämlich?

Im Fall von Kabul ist man überrascht, weil der Partner es einem nicht gesagt hat, weil man selbst die Amerikaner nicht richtig gelesen hat, weil die Amerikaner sich verschätzt haben, wie schnell die Taliban wieder die Macht übernehmen würden. Afghanistan ist ein klassisches Versagen der amerikanischen Nachrichtendienste. Die russisch-ukrainische Krise dagegen war eine Art Triumph der amerikanischen Geheimdienste. Sie sagten voraus, was passieren würde, als würden sie aus Putins Drehbuch vorlesen.

Ein weiterer Aspekt von Baerbocks »anderer Welt« könnte sein, dass sie überrascht sein wollte. Wir Europäer wollten überrascht sein, weil wir nicht glauben wollten, dass in unserer Welt so etwas passieren kann. Sie selbst schienen auch überrascht zu sein, Sie hatten noch Mitte Februar in der SZ gesagt, Sie glaubten nicht, dass Putin in die Ukraine einmarschieren würde.

Ich war sicher, dass er im Donbas etwas tun würde, aber ich war total überrascht, als er Kiew angriff. Ich kenne Russland besser als Afghanistan. Aus meiner Sicht geht die Geschichte so, dass die Russen nicht überraschend sein wollen. Wenn man die wichtigen Statements von Putin verfolgt, so macht er genau das, was er gesagt hat. Als er im Juli letzten Jahres diesen Essay schrieb, dass Russen und Ukrainer ein Volk seien, machte er sehr klar, dass er eine antirussische Ukraine nicht zulassen werde. Es war auch sehr klar, dass er handeln würde, um das zu verhindern. Handeln kann sehr leicht militärisches Handeln sein. Die seltsame und aus meiner Sicht auch paradoxe Geschichte ist, dass wir nicht nur in einer Welt leben, die wir nicht mehr verstehen können, sondern dass wir sie dann am wenigsten verstehen, wenn Leute genau das tun, was sie angekündigt haben. Dann sind wir am meisten überrascht.

Gibt es da einen Unterschied zwischen Politikern in liberalen Demokratien und Politikern in totalitären Staaten? Politiker in Demokratien sprechen meist sehr auslegungsfähig und eher vage.

Demokratische Politiker sind sehr viel schizophrener, weil sie verschiedene Botschaften für verschiedene Öffentlichkeiten haben. Autoritäre Führer sind viel paranoider, sie sehen überall Bedrohungen und was andere ihnen antun könnten, deshalb überinterpretieren sie alles. Aber ein zentraler Unterschied ist, dass man in demokratischer Politik auch mal Schwäche zugeben kann, in autoritärer Politik aber niemals. Ein autoritärer Führer kann nicht sagen, er sei überrascht.

Bundeskanzler Olaf Scholz gilt als schwach. Aber wenn er mal was sagt, dann sagt er stets, dass er nicht überrascht sei, sondern das alles habe kommen sehen und entsprechend vorbereitet sei.

Ja, okay, das ist ein therapeutischer Ansatz, aber er könnte auch überrascht sein, wenn er wollte. Aber können Sie sich vorstellen, dass Präsident Putin der Öffentlichkeit erzählt, er sei total überrascht von etwas, was passiert ist? Das wäre bereits eine Legitimitätskrise.

Warum tun Politiker und Gesellschaften Dinge, die sie selbst überrascht?

Wenn die Situation sich so dramatisch verändert, dass man aus dem Normalen rauskatapultiert wird, dann wird man auch von der eigenen Reaktion überrascht. Außerdem gilt für Politiker in einer Mediengesellschaft, die eine so überragende Rolle spielt: Wenn du wirklich überrascht bist, dann musst du überraschend handeln.

»DAS PARADOXE AN 1989 WAR, DASS WIR ALS FOLGE VON ETWAS, MIT DEM WIR NICHT RECHNETEN, GLAUBTEN, DASS UNS DIE ZUKUNFT BEKANNT SEI.«

Was war die größte Überraschung?

Definitiv nicht das, was die Russen taten. Sondern die Antwort der Ukrainer. Das ist lustig: Während die russischen und amerikanischen Geheimdienste über sehr viele Aspekte unterschiedlicher Auffassung waren, so waren doch beide in einer Sache einig: dass der Krieg nur ein paar Wochen dauern würde.

Warum?

Einer der Aspekte europäischer Überraschung ist, dass wir sehr stark auf Institutionen und institutionelle Leistungsstärke fixiert sind. So sahen wir die Ukraine als ein Land mit einem schwachen Präsidenten, viel Korruption, wirtschaftlicher Schwäche und vielen enttäuschten Leuten. Und dann gibt es plötzlich diesen Grad an politischer Mobilisierung und eine Nation entsteht, die Dinge macht, die man überhaupt nicht von ihr erwartet hat.

Weil?

Ich glaube, eine große Schwäche besteht darin, nicht zu verstehen, dass Menschen in normalen und in außergewöhnlichen Situationen sehr unterschiedlich handeln. Wir sind total überrascht davon, was für Dinge wir tun können, die wir normalerweise nie tun würden: dass wir stärker sein können, schneller sein können, entschlossener sein können. Kleiner Einschub: Es kann allerdings auch andersherum sein: Du denkst, du bist besser, wenn es drauf ankommt, und dann bist du es nicht. Jedenfalls ist der Unterschied zwischen dem Normalen und dem Außergewöhnlichen der Kern unserer Überraschung. Die große Quelle unseres Überraschtseins ist also, dass wir die Außergewöhnlichkeit von dem nicht verstehen, was gerade passiert.

Lassen Sie uns über Deutschland reden. Wie Sie wissen, reden wir Deutsche am liebsten über uns. Wir waren 1989 überrascht von unserer eigenen Vereinigung, dachten, das war es jetzt aber mit den Überraschungen und sind seither nur noch überrascht.

Da haben Sie selbstverständlich Recht. Die deutsche Situation ist tatsächlich besonders. Der deutsche Diplomat Thomas Bagger hat das sehr schön gesagt: Das Paradoxe an 1989 besteht darin, dass wir als Folge von etwas, das niemand erwartet hat, nämlich dem Ende des Kommunismus, nun glauben, dass uns die Zukunft bekannt sei. Anders gesagt: Wir waren so überrascht, dass wir daraus folgerten, dass wir nie mehr überrascht würden. Der Kern der permanenten deutschen Überraschung ist, dass Deutschland sich danach als die Norm gesehen hat. Die deutsche Welt war so, wie die Deutschen sich und die anderen sahen. Fukuyamas Ende der Geschichte war ein amerikanisches Buch, aber deutsche Realität. Und als Ergebnis ging es Deutschland in dieser Post-Kalte-Krieg-Welt sehr, sehr gut.

»DEUTSCHLAND WAR IM EUROPÄISCHEN KONTEXT UNNORMAL, ERKLÄRTE DAS ABER ZUR NORMALITÄT.«

Weshalb wir uns nicht mehr rausbewegten.

Klar, die schwierigste Situation an einem kommenden Wandel ist, wenn man selbst durch diesen Wandel verlieren wird. Das bestimmt die deutsche Reaktion auf die Welt, die kommt. Deutschland hat die letzten fünf, sechs Jahre einen Status quo verteidigt, den es gar nicht mehr gab. Das begann schon mit der Finanzkrise, aber wurde richtig evident mit Trump und Brexit. Bei allem Respekt vor Kanzlerin Merkel, aber das waren keine Abweichungen von einer alten Welt, die zurückkommen würde. Für die meisten war es ganz klar, dass sie eben nicht zurückkommen würde.

Warum konnten wir nicht sehen, was alle anderen sahen?

Weil Deutschland so normal und so erfolgreich war. Deshalb versuchte es auch gar nicht erst, zu verstehen, was mit anderen geschah. Zum Beispiel: Vor dem Aufkommen der AfD dachten die Deutschen wirklich, diese ganzen populistischen Probleme in Frankreich, in Italien, in Osteuropa kämen nur daher, dass die anderen ihre Hausaufgaben nicht gemacht hätten. Deutschland war im europäischen Kontext total unnormal, erklärte aber diese Abnormalität zur Normalität. Aber dann bekommt auch Deutschland diese Probleme und wird eine normale europäische Demokratie mit AfD und einem hohen Anteil an Misstrauen gegenüber Mainstream-Politik und Mainstream-Medien. Aber durch die Fehleinschätzung von einem selbst als Norm und allen anderen als Abweichung hat Deutschland Zeit verloren, seine Probleme zu lösen.

Was sind die gravierendsten aus Ihrer Sicht?

Wir sehen nun, dass der Erfolg Deutschlands auf drei Säulen fußte – und die sind alle drei mehr oder weniger gleichzeitig zusammengebrochen. Säule 1: Deutschland hat seine Sicherheit komplett an die USA outgesourct. Nicht in irgendeine Form von Verteidigung zu investieren, bedeutet, dass man glauben will, Soft Power sei entscheidend und Hard Power nicht mehr wichtig. Nun ist der Krieg wieder ein reales Risiko und die USA sind sehr viel weniger verlässlich als früher, und da musste Deutschland Dinge tun, die keiner erwartete, etwa die berühmte 100-Milliarden-Euro-Investition in die Bundeswehr.

Säule 2?

Deutschland hatte sich entschieden, die Wettbewerbsfähigkeit großer Teile seiner Wirtschaft auf billigem russischem Gas aufzubauen. Als es 2014 sehr klar wurde, was Putin umtrieb, sagten die Deutschen: Okay, Putin hat schreckliche Dinge getan, aber er wird auf keinen Fall so weitermachen. Weil es außerdem schwierig war, die Abhängigkeit von russischem Gas zu beenden, entschied Deutschland sich, sie lieber zu verdoppeln.

Die Erdgaspipeline Nord Stream 2

Genau. Nur wenn man überzeugt sein wollte, dass die Welt sich nicht radikal geändert hatte, dann ergab Nord Stream 2 Sinn. Wenn man aber überzeugt war, dass sie sich radikal geändert hatte, dann ergab das überhaupt keinen Sinn, weil es die eigene Verletzbarkeit enorm erhöhte. Und damit kommen wir zu Säule 3, dem Herzen des deutschen Erfolgs: Die Abhängigkeit von einem wachsenden chinesischen Exportmarkt, den es so nicht mehr gibt. Damit sind praktisch alle drei Säulen nicht mehr da. Als Ergebnis ist Deutschland mehr als jeder andere gezwungen, sich neu zu erfinden.

Wie können denn nun Politiker darüber sprechen, dass vieles anders werden wird und muss, sodass die Leute es wirklich hören und akzeptieren?

Politiker, die jetzt am meisten gewinnen, sind die, die den Leuten glaubhaft zeigen, dass sie verstanden haben, dass die Rückkehr zur Normalität nicht möglich ist. Ich habe öfter darüber nachgedacht, warum Robert Habeck vor der letzten Bundestagswahl für Waffenlieferungen an die Ukraine plädiert hat. Es ist gegen die Tradition, es wird etwas kosten, warum tut man das?

Warum?

Da geht es nicht nur um die Waffen, da geht es darum, dass ein Politiker signalisiert, dass er verstanden hat, dass wir in einer völlig anderen Lage sind als gedacht. Die Botschaft an die Leute lautet: Vertraut nicht denen mit der größten Erfahrung, sondern dem, von dem ihr glaubt, dass er die neue Lage am besten versteht.

Aber es ist bis zum Beweis des Gegenteils unklar, ob die Mehrheit nicht Politiker bevorzugt, die die Illusion der erwarteten Normalität aufrechterhalten gegenüber einer neuen, unbeständigeren, gefährlicheren Welt.

Das Schwierigste für Politiker ist momentan, dass ihnen zugehört wird. Meistens bleibt man in Erinnerung für die Dinge oder Sätze, die die Leute nicht erwartet haben. Hätte Habeck etwas zum Klima gesagt, dann hätte man das von ihm erwartet – und wieder vergessen. Nur wenn man etwas sagt, dass das eigene Profil herausfordert, bleibt es hängen. Ich glaube, dass wir in einer Situation sind, in der die Leute zwei verschiedene Qualitäten von Politikern erwarten. Sie wollen sicher sein, dass die Politiker die Natur der Krise, in der wir sind, wirklich verstanden haben. Aber sie wollen auch beruhigt werden. Wenn sie nur sagen, wie schlimm alles ist, dann funktioniert das nicht.

Aber Leute können sich nicht plötzlich radikal anders verhalten, wenn sie nicht direkt im Krieg sind.

Nein, das müssen Politiker tun. Denken Sie an Selenskyj, der vor dem Krieg immer sagte, dass die Russen nicht angreifen würden und so weiter. Dann hat sich der Mann innerhalb von drei Minuten neu erfunden. Als ihm die USA anboten, ihn aus Sicherheitsgründen nach Lwiw zu bringen, sagte er: Ich brauche keine Mitfahrgelegenheit, ich brauche Munition. Danach war alles anders. Wegen dieses einen Satzes fingen die Leute an, zuzuhören.

Europa wurde auf die Idee gegründet, dass die Vergangenheit schlecht war, aber nicht mehr zu ändern ist, weshalb man sich auf die Zukunft konzentrieren muss. Nun aber ist die Vergangenheit etwas Gutes und die Zukunft, so scheint es, kann nur schlecht werden, weshalb man sie nicht haben möchte. Aber man braucht eine Idee der Zukunft, um mit der Gegenwart klarzukommen. Was heißt das, wenn man sie aufgegeben hat?

»ALS ROBERT HABECK VOR DER BUNDESTAGSWAHL WAFFEN FÜR DIE UKRAINE FORDERTE, SIGNALISIERTE ER, DASS ER VERSTANDEN HAT, DASS WIR IN EINER VÖLLIG ANDEREN LAGE SIND ALS GEDACHT.«

Wir haben es mit zwei Extinction Rebellions zu tun, zwei Rebellionen gegen das Aussterben. Die eine ist die Klimabewegung, im Grunde aus dem Titel von Fukuyamas The End of History and the Last Man entstanden.

So lautet der Originaltitel von Ende der Geschichte.

Was geblieben ist, ist der letzte Mensch, die letzte Generation. Alle benehmen sich, als seien sie die letzte Generation auf der Erde, weil wir es nicht hinkriegen. Die andere Rebellion gegen das Aussterben kommt von der nationalistischen, der rechtsextremen Seite. Wir sind die letzten Ungarn, die letzten Bulgaren, wegen der Demografie, wegen der Migration – unsere kulturelle Identität wird zerstört. Beide Rebellionen sind extrem zukunftsskeptisch und apokalyptisch. Grundsätzlich sollten Eltern neidisch auf ihre Kinder sein, aber nun hat sich das umgedreht und Kinder sagen: Ich kriege mal nicht deine Rente, du hast ein viel besseres Leben. Plötzlich ist aus unserem Kontinent das »Nostalgie-Hotel« geworden. Insofern gebe ich Ihnen Recht: Wenn wir nicht lernen, über die Zukunft zu sprechen, dann wird das unsere Probleme noch vergrößern.

Der Westen, die liberalen Demokraten gegen die Autoritären, ist das das Ersatz-Narrativ für eine Zukunft, die es nicht mehr gibt?

Ja, das ist eine Struktur, die doch sehr der Vergangenheit ähnelt. Warum reden wir so gern über den letzten Kalten Krieg? Weil wir ihn gewonnen haben. Aber mein Gefühl ist, dass diese simple Opposition zwischen Demokratie und Totalitarismus nicht genug sein wird, um die Welt zu ordnen. Das Fehlen von Zukunft könnte im Falle der autoritären Regime sogar noch dramatischer sein. Da war dieser enge Berater Putins, der sagte: Wenn es keinen Präsidenten Putin gibt, gibt es auch kein Russland. Apokalyptischer kann man nicht sprechen. Das finde ich auch sehr wichtig, um das Denken und Handeln Putins zu verstehen. Er versucht, alle Probleme in seiner Lebenszeit zu lösen, weil er seinen Nachfolgern bereits misstraut, obwohl er sie noch gar nicht kennt.

Warum funktioniert für Sie die Erzählung nicht: liberale Demokratie vs. illiberale und autoritäre Systeme?

Mein erster Punkt: Die Mehrheit der Staaten, die Präsident Biden zu seinem Gipfel für Demokratie geladen hatte, sanktionieren Russland nicht. Warum nicht? Ich glaube, dass wir in einer Welt leben, in der viel stärker als das Kalte-Krieg-Narrativ das Dekolonialisierungs-Narrativ dominiert. Es geht viel stärker um Identitätspolitik als um Systeme. Für uns ist der Angriff auf die Ukraine ein klassischer Rekolonialsierungskrieg, aber viele außerhalb Europas sehen das anders. Sie sehen uns, Frankreich, Großbritannien oder die USA, als Kolonialmächte. Russland dagegen hat sie zu keiner Zeit kolonisiert. Diese Art von Identitätspolitik kann nicht so einfach durch den Gegensatz demokratisch vs. autoritär diszipliniert werden.

Und der zweite Punkt?

Während des Kalten Krieges waren sowohl Demokratien als auch Sowjet-Kommunismus universalistische Regime, die glaubten, dass sie die Welt als Ganzes umformen würden. Deshalb war der Kalte Krieg übrigens die Zeit des Friedens, weil beide Seiten dachten, die Zeit arbeite für sie. Beide Seiten wollten der jeweils anderen die Zeit geben, um sich selbst zu zerstören. So gesehen ist die heutige Zeit viel gefährlicher, weil nun jeder das Gefühl hat, dass die Zeit gegen ihn selbst läuft.

Das taz FUTURZWEI-Gespräch mit Ivan Krastev wurde per Zoom und in englischer Sprache geführt Foto: Helene Bamberger/Laif

Wir Deutsche wurden ja nach 1945 von den schlimmsten Unmenschen zu moralischen Superhelden. Eine These ist, dass diese Selbstbeschäftigung dazu geführt hat, dass wir die Realität aus den Augen verloren.

Zunächst mal: Es war außergewöhnlich, was die Deutschen taten, nämlich eine Identität zu schaffen, die auf Scham basiert und nicht einfach nur auf Stolz. Aber Deutschland hat es geschafft, stolz darauf zu sein, wie es mit seiner Schuld umgegangen ist. Das ist also eine neue Form von Stolz-Politik.

Sie schmunzeln?

Naja, im Resultat führt genau diese Identität zur Tendenz, überzureagieren. Alles, was nicht dieser Norm entspricht, wird als total außergewöhnlich verstanden. Das Bemerkenswerteste für mich am russisch-ukrainischen Krieg ist: Man hat den russischen Präsidenten, der die Ukraine entnazifizieren will und in den Augen vieler handelt wie Hitler in den 1940ern. Aber einer der Mediatoren zwischen Russland und der Ukraine war Israel. Kann man sich bei all diesen historischen Narrativen so eine Ironie vorstellen?

Was wollen Sie sagen?

Ich denke, dass der ständige Bezug auf den Zweiten Weltkrieg zum Verständnis dessen, was passiert und nicht passiert, mit diesem Krieg endet. Wir werden sehr wahrscheinlich in eine Welt wechseln, in der es sehr viel mehr Gewalt geben wird als zwischen dem Zweiten Weltkrieg und heute. Diese Gewalt wird nicht mehr in den Außergewöhnlichkeits-Diskursen verstanden werden, wie sie bisher vor allem in Deutschland üblich waren. Ein Grund, warum sich andere Leute in anderen Staaten nicht so sehr aufregen und nicht so reagieren wie wir, besteht darin, dass sie glauben, das sei europäischer Exzeptionalismus.

Also die Beanspruchung einer moralischen Sonderstellung.

Wir waren deshalb so schockiert über diesen Krieg, weil es in Europa passiert. Die Dominanz des moralischen Diskurses, die Unmöglichkeit, in den Kategorien von Realpolitik zu sprechen und zu denken, ja die sofortige Empörung beim bloßen Gedanken an die Möglichkeit von Realpolitik – das kommt aus dieser deutschen Identität heraus.

Die Frage, die Barack Obama an seinem letzten Tag im Weißen Haus seinen Leuten stellte, lautete: What if we were wrong? Was, wenn wir mit unserem Denken falsch lagen, weil die Welt doch anders ist?

»NUN MÜSSEN WIR UNS DAMIT VERSÖHNEN, IN EINER VIEL PLURALISTISCHEREN WELT ZU LEBEN. WIR SOLLTEN AUFHÖREN, DER MISSIONAR ZU SEIN, DER GLAUBT, ES SEI SEINE PFLICHT, ALLE ANDEREN ZU ÄNDERN.«

Wir müssen ganz gewiss einige unserer Annahmen überdenken. Sehr wichtig ist dabei der Unterschied zwischen Werten und Annahmen. Man kann bestimmte Werte vertreten und gleichzeitig verstehen, wie limitiert die Möglichkeiten sind, die Welt um einen selbst herum entsprechend umzuformen. Ich habe das Gefühl, die Rolle von Europa hat sich dramatisch geändert.

Wie wird sie aussehen?

Anfang des 20. Jahrhunderts war Europa die Welt, die europäische Wirtschaft dominierte die Welt, der Erste Weltkrieg hieß damals noch »der europäische Krieg«. Während des Kalten Krieges hörte Europa auf, die Welt zu sein, nicht-europäische Mächte, USA und Sowjetunion hatten das Sagen. Und dann fing Europa an, eine eigene Identität zu entwerfen und sich als Labor der Welt von morgen zu verstehen.

Wir dachten, alle werden wie wir.

Nun wird uns klar, dass das, was wir als universales Modell verstanden haben, vielleicht für Europa oder für Deutschland funktioniert hat. Und nun müssen wir uns damit versöhnen, in einer viel pluralistischeren Welt zu leben. Das ist für mich von zentraler Wichtigkeit. Wir sollten aufhören, der Missionar zu sein, der glaubt, es sei seine Pflicht, alle anderen zu ändern. Auf der anderen Seite sollten wir ein Leben beanspruchen, das anders ist, als das der Leute um uns herum. Die Tatsache, dass wir bezüglich einiger unserer Annahmen eine Krise haben, bedeutet nicht, dass wir künftig wie China leben werden.

Heißt?

Sich mit der exzeptionellen Kultur Europas zu versöhnen und sich mit ihr in ihrer Außergewöhnlichkeit zu identifizieren, halte ich für sehr wichtig, um uns aus dieser Krise herauszubringen.

Aber wir lagen falsch?

Ja, wir lagen falsch. Aber das heißt nicht, dass die anderen richtig lagen.

Interview: PETER UNFRIED und HARALD WELZER

Dieser Beitrag ist im September 2022 in taz FUTURZWEI N°22 erschienen.