Italiens Flüchtlingspolitik: Wutausbruch auf der Gefängnisinsel
Seit Italiens Regierung beschlossen hat, afrikanische Flüchtlinge auf Lampedusa festzusetzen, protestieren Inselbewohner und die Neuankömmlinge gemeinsam.
"Libertà, libertà!", rufen die gut 1.000 Menschen, in großer Mehrzahl Tunesier, kaum haben sie am Samstagvormittag das Tor des Lagers aufgebrochen und sich auf den Marsch zur Piazza von Lampedusa aufgemacht. "Freiheit, Freiheit!" - das hat es auf der 205 Kilometer südlich von Sizilien gelegenen Insel noch nie gegeben. Die dort festgehaltenen Bootsflüchtlinge nehmen sich einfach ihre Freiheit. Polizisten und Carabinieri versuchen erst gar nicht, den Massenausbruch zu verhindern, und die Inselbewohner empfangen die Immigranten auf der Piazza mit begeistertem Beifall. Schließlich revoltieren auch sie seit Tagen. Am Freitag versammelten sich 4.000 der insgesamt bloß 6.000 Lampedusaner zu einer Kundgebung vor dem Flüchtlingsaufnahmelager, sämtliche Läden auf der Insel blieben geschlossen, um gegen die Hardliner-Politik von Innenminister Roberto Maroni zu protestieren.
Der hatte in den letzten Wochen den Druck im Kessel Lampedusa systematisch und absichtsvoll erhöht. Die geografisch zu Afrika gehörende, bloß 100 Kilometer von der tunesischen Küste entfernte Insel ist in den vergangenen zehn Jahren zum Hauptanlaufpunkt jener Flüchtlinge geworden, die den riskanten Weg übers Mittelmeer wählen; etwa 30.000 Menschen landeten im vorigen Jahr hier. Nach einem Aufenthalt von ein bis zwei Tagen wurden alle in Lager auf Sizilien oder auf dem italienischen Festland geschafft, wo über Asylanträge und Abschiebungen entschieden wurde.
Seit Weihnachten aber ist alles anders. Maroni hat angeordnet, dass kein Flüchtling mehr die Insel verlässt. "Wer auf Lampedusa ankommt, bleibt dort bis zu seiner Rückschaffung", heißt seine Losung. Wenig schert es den Minister, dass das Lager mittlerweile aus allen Nähten platzt. Eigentlich für 300 Personen vorgesehen, mit Notkapazitäten für weitere gut 500 Menschen, beherbergte es in den letzten Tagen 1.800 Bootsflüchtlinge. Mittlerweile schlafen die Menschen in den Korridoren, in den Verwaltungsbüros, ja selbst auf dem Hof unter notdürftig gespannten Planen und unter katastrophalen Hygienebedingungen.
"Es herrscht kein Notstand", verkündet Maroni dennoch unverdrossen. Das Problem will er lösen, indem neben er dem Aufnahmelager auf einer ehemaligen US-Militärbasis ein weiteres Camp errichtet, ein "Identifizierungs- und Abschiebelager". Damit aber hat er endgültig die Inselbewohner gegen sich aufgebracht.
"Guantánamo" und "Alcatraz" sind die Stichwörter, die die Einheimischen immer wieder in den Mund nehmen, wenn es um das neue Lager geht, und um den Plan des Innenministeriums, die Flüchtlinge nicht mehr von der Insel zu lassen, sondern Italiens Probleme mit der südlichen Seegrenze komplett von dort aus abzuwickeln: Lampedusa werde so zu "einem Gefängnis unter freiem Himmel", fürchten die Insulaner, deren Hauptverdienstquelle der Tourismus ist.
Und in diesem einen Punkt treffen sie sich mit den Immigranten, die ihnen bisher bloß als Ärgernis galten. Die Verbrüderungsszenen vom Samstag: Sie stehen für ein Zweckbündnis gegen die Regierung.
Die gibt sich jedoch weiter völlig unbeeindruckt - auch um den Preis einiger Widersprüche im PR-Auftritt. Ministerpräsident Silvio Berlusconi erklärte ebenso trocken wie wahrheitswidrig, am Samstag habe es "gar keinen Massenausbruch aus dem Lager" gegeben. Schließlich sei das Camp kein Gefängnis, und die Insassen hätten bloß beschlossen, "ein Bier trinken zu gehen". Maroni dagegen drohte den Kommunalpolitikern der Insel unverhüllt mit Verfolgung, schließlich seien "Verhaltensweisen, die die klandestinen Einwanderer aufstacheln, strafrechtlich relevant".
Erst einmal aber hat Maroni für Dienstag einen Trip nach Tunis geplant. Dort will er Präsident Ben Ali die Zustimmung zur direkten Rückschaffung der über 1.000 auf Lampedusa festgehaltenen Tunesier abhandeln.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Berliner Sparliste
Erhöht doch die Einnahmen!
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid