Isolde Charim Knapp überm Boulevard: Ein Wagnismit offenemAusgang
Man kann in Europa derzeit zwei Formen von direkter Demokratie beobachten. Und beide haben eminente Folgen für das Schicksal Europas: der Brexit und Frankreichs „grand débat national“. Zwei Formen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Während der Brexit Chaos herstellt, ist Macrons „nationale Debatte“ der Versuch, das Chaos zu regulieren.
Jenes Chaos, das die Gelbwesten erzeugt, aber auch jene Missstände, die sie sichtbar gemacht haben: den Mangel an sozialer Gerechtigkeit, die markanten regionalen Ungleichheiten, den Bruch des Vertrauens der Bürger in die Politik. Und die Wut, die auch drakonische Polizeimaßnahmen nicht eindämmen konnten.
Macrons „grand débat“ ist der Versuch einer Antwort auf all das, was da aufgebrochen und offenkundig geworden ist. Dazu besinnt sich Macron, der als Präsident bislang den arroganten Schnösel gegeben hat, auf Macron als Wahlkämpfer. Es ist ein dringlicher Versuch, denn hier droht etwas aus dem Ruder zu laufen. Und wie man am Brexit-Debakel im Umgang mit derselben Wut sieht: Die Antwort kann kein Votum sein, wo nur ein Ja oder Nein möglich ist. Sie muss ein exakter Gegenentwurf zu einem Brexit-artigen Referendum sein.
Die „große Debatte“ soll drei Monate lang, von Mitte Januar bis Mitte März, stattfinden. Es ist dies eine nationale Initiative, die online, aber vor allem auch landesweit Bürger zu Wort kommen lassen soll. Genau jene Bürger, die von sich sagen, sie würden sich „in dieser Demokratie nicht mehr wiedererkennen“. Auf lokaler, auf Gemeindeebene sollen sich die Bürger versammeln. Hier sollen sie ihre „cahiers de doléances“ – jene aus der Französischen Revolution kommenden Beschwerdehefte und Wunschzettel formulieren: Dabei soll nicht nur Kritik geübt, sondern auch Vorschläge gemacht werden – und diese sollen nicht nur deponiert, sondern auch diskutiert werden. Die Resonanz ist groß.
In Europa wird zurzeit ein großes Paradoxon demokratischer Gesellschaften sichtbar: gut integrierte Gesellschaften konsolidieren sich nicht etwa durch Harmonie, sondern durch Streit – durch begrenzten, produktiven Streit. Polarisierten, gespaltenen Gesellschaften hingegen ist dieser Weg versperrt. Denn Streit auf schwankendem Gesellschaftsboden kann leicht in den Abgrund führen. In solchen akuten Situationen bedarf es eines anderen Mediums der Konsolidierung. Etwa des Gesprächs.
Eine solche nationale Gesprächstherapie, wie Macron sie ausgerufen hat, ist außergewöhnlich für eine repräsentative Demokratie. Ein beispielloses demokratiepolitisches Experiment. Und ein Wagnis.
Macron versucht, den Kontakt zu den Bürgern wiederherzustellen – nicht im Ausnahmezustand eines Wahlkampfs, sondern im laufenden Betrieb. So ist er selbst immer wieder vor Ort. Und er sowie alle anderen Funktionäre sind dabei nur Zuhörer. Stundenlang hören sie den Bürgern zu. Mit dem Rücken zur Wand – eine Position, in die ihn die Gelbwesten gebracht haben – sucht Macron in einer Massendemokratie eine direkte Bindung zu den Citoyens, ohne Zwischeninstanzen, herzustellen.
Die Übung ist nicht nur neu – ihr Ausgang ist auch höchst ungewiss. Sie birgt zwei Risiken. Zum einen ist es völlig offen, ob es solch einer „nationalen Debatte“ gelingen wird, das tiefe Misstrauen der Bevölkerung gegen ihre Repräsentanten zu überwinden. Kann solcherart wieder Vertrauen hergestellt werden? Wird die Mehrheit es als realen Ausweg aus der Krise akzeptieren – oder wird sie es als Ablenkungsmanöver, als Manipulation, als Falle, um ihre Wut zu ersticken, wahrnehmen, wie mahnende Stimmen schon heute meinen?
Der Ausgang ist aber nicht nur ungewiss, wenn das Experiment scheitert. Er ist mindestens ebenso ungewiss, sollte es gelingen. Denn was passiert, wenn alles wie geplant läuft – was macht die Regierung dann? Ändert sie ihr Programm? Baut sie den Staat um? Es sind dies Fragen, die uns alle betreffen – denn die Krise der politischen Repräsentation betrifft ganz Europa. Und es braucht einen Ausweg. Und wie man gerade erlebt: Der Brexit ist keiner.
Die Autorin ist freie Publizistin in Wien
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