■ Irak: Die USA müssen sich entscheiden. Entweder Washington akzeptiert Saddam Husseins Regime – oder stürzt es endlich: Grabesstille in Bagdad
Herbst 1990: Mit einem irakischen Freund sitze ich vor dem Fernseher und beobachte Saddam Hussein bei seinem ersten Besuch in Kuwait seit der irakischen Invasion am 2. August. In Uniform stapft er am Meer entlang und tätschelt in Strandburgen verschanzte irakische Soldaten. „Um Himmels willen“, ruft mein Freund. „Die Amerikaner haben Satelliten, Aufklärungsflugzeuge und Raketen. Warum schießen die das Schwein nicht einfach ab? Wir wären endlich erlöst.“
Vier Monate später beginnt der zweite Golfkrieg. US-amerikanische Cruise Missiles zerstören militärische und infrastrukturelle Ziele im Irak – und töten dabei eine bis heute unbekannte Zahl von IrakerInnen. Panzerfahrer begraben zwangsweise an die Front berufene irakische Soldaten bei lebendigem Leib im Sand. Wenig später wird publiziert, der US-Präsident George Bush habe eine überlebensgroße Statue des Diktators in Bagdad von der Angriffsliste seiner Generäle streichen lassen. Der Verdacht reift, daß Saddam Hussein nie wirklich Ziel der Golfkriegsalliierten war.
Über sieben Jahre später droht jetzt ein erneuter – euphemistisch „Militärschlag“ genannter – US- Angriff. Doch die Alliierten hadern. Die arabischen Verbündeten – vom Nahost-Friedensprozeß enttäuscht und selbst nicht gerade ausgewiesene Demokraten – wollen den Irak wieder in die eigenen Reihen integrieren. Die europäischen, russischen und chinesischen Mitglieder der Golfkriegsallianz haben längst Verträge über die Ausbeutung der irakischen Ölreserven unterschrieben und warten auf das Ende des Embargos. Nur den USA nutzt Saddam Hussein noch als Schurke – vor allem aus innenpolitischen Gründen.
Die Gegner des Irak-Embargos können auf gute Argumente verweisen: Die Bilanz der härtesten Sanktionen in der Geschichte der UNO ist katastrophal. Saddam Hussein und die Seinen leben weiterhin in Saus und Braus, weite Teile der Zivilbevölkerung darben. Vorsichtige Schätzungen gehen von Zehntausenden Toten als Folge des Embargos aus. Der irakische Herrscher stilisiert Verhungerte und mangels medizinischer Hilfe verreckte Kinder zynisch zu Märtyrern. Gleichzeitig ignoriert er den Willen der UNO. Noch nie verfehlten internationale Sanktionen derartig ihr Ziel.
Zentrales Argument gegen einen Sturz Saddam Husseins im Golfkrieg war die Behauptung, der Irak werde anschließend in drei Einflußzonen zerfallen. Im Norden hätten separatistische Kurden das Sagen, im Süden angeblich vom Iran dirigierte Schiiten und in Bagdad würden sich sunnitische Clans Machtkämpfe liefern. Doch die heutige Realität belehrt eines Besseren. Die von den Alliierten in eine materiell und politisch nicht überlebensfähige Unabhängigkeit entlassenen Kurden suchen im Krieg gegeneinander – je nach Fraktionszugehörigkeit – die Unterstützung der Nachbarmächte Türkei, Iran und Bagdad. Die Führung des Vielvölkerstaates Iran – selbst von Sezessionsangst geplagt – beteuert die territoriale Integrität Iraks. In Bagdad herrscht Grabesstille – im Zweifelsfall wird auf Verdacht exekutiert.
Weitgehend unausgesprochen blieb 1991 ein anderes Dilemma: Eine von der internationalen Gemeinschaft unter dem Banner der „neuen Weltordnung“ eingesetzte irakische Staatsführung durfte nicht mehr den Zuschnitt einer prowestlichen Bananendiktatur à la Lateinamerika haben. Doch wo im Irak durchsetzungsfähige Demokraten finden? Und: Welchen Einfluß hätten sie auf das Machtgefüge in den vorgeblich prowestlichen Diktaturen der Region?
Nüchtern betrachtet ist Iraks militärisches Potential heute im Vergleich zu Vor-Golfkriegszeiten relativ gering. UN-Waffeninspekteure haben zahlreiche A-, B- und C-Waffen, Raketen und entsprechende Forschungseinrichtungen in mittlerweile sieben Jahren Tätigkeit im Land unwirksam gemacht. Wenn der Chef der für die Zerstörung der irakischen Massenvernichtungswaffen zuständigen UN-Mission Unscom, Richard Butler, sagt, der Irak habe noch genügend biologische Kampfstoffe, um beispielweise „Tel Aviv wegzupusten“, mag er recht haben. Doch er verschweigt: Gerade B-Waffen sind so „effektiv“, daß bereits winzige Bakterienkulturen eine Stadt auslöschen können.
Gewiß, Saddam hätte keine Skrupel, diese Waffen einzusetzen. Allerdings nicht um jeden Preis. Als der Irak vor dem Einmarsch in Kuwait international toleriert ein weit größeres Potential an Massenvernichtungsmitteln besaß als heute, beschränkte er sich auf deren Einsatz gegen Kurden, den Kriegsgegner Iran und – im Test – iranische Kriegsgefangene. Die damals mit Irak verbündeten westlichen Mächte wußten davon und verschlossen die Augen – ebenso wie vor dem Umstand, daß der Aggressor Irak den Krieg gegen den Iran angefangen hatte. Im zweiten Golfkrieg feuerte die irakische Armee ausschließlich mit konventionellen Sprengköpfen bestückte Raketen in Richtung Israel. Wohl wissend: Auf einen C- oder B-Waffen-Angriff würden die Israelis wohl mit Atomraketen antworten – und das ist auch heute noch so.
Nach dem Krieg um Kuwait machte Saddam Hussein, entgegen seiner panarabischen Rhetorik, sogar Israel Avancen. Denn Saddam Hussein ist kein fanatischer Ideologe, der dem Tod unerschrocken ins Auge blickt, sondern ein kleiner, brutaler Diktator, der überleben will. Im eigenen Land international in Ruhe gelassen, geht er dabei – wie seit seinem Amtsantritt gewohnt – über Leichen. Außenpolitisch steckt er immer dann zurück, wenn die eigene Existenz gefährdet ist. Damit ist Saddam nicht gefährlicher als so mancher von seinen derzeitigen Gegnern hofierte Mitdespot.
Will man den Status quo im Irak nicht länger akzeptieren, bleiben zwei Möglichkeiten: Entweder alles wird wieder so wie vor dem zweiten Golfkrieg. Dann gehört das UN-Embargo gegen das Land umgehend aufgehoben, um das materielle Leiden der irakischen Zivilbevölkerung zu beenden. Oder aber man fordert Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Dann muß Saddam Hussein militärisch vom Thron gejagt werden – mit allen Konsequenzen für Irak und die Region und trotz der Unwägbarkeit, wer dann das Land regieren wird. Doch auf Letzteres hoffen fast nur noch IrakerInnen.
P.S.: Von meinem irakischen Freund habe ich seit Herbst 1990 nichts mehr gehört. Gemeinsame Bekannte berichten, er sei wahrscheinlich wegen staatsfeindlicher Umtriebe hingerichtet worden – ebenso wie Tausende andere irakische Regimegegner. Thomas Dreger
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