Interview zum Behindertensport: „Hauptsächlich kriegsversehrte Männer“

Nach dem Krieg trieben allenfalls Männer mit Kriegsverletzungen Sport als Therapie. Frauen spielten keine Rolle, Menschen mit geistiger Behinderung wurde mit Abscheu begegnet

Eine Frau mit Behinderung im Leistungssport (hier Vanessa Low): nach dem Krieg unvorstellbar. Foto: Jens Büttner/dpa

taz: Herr Schlund, wie schaute die westdeutsche Gesellschaft in den 1950ern und 60ern auf den Behindertensport?

Sebastian Schlund: Den, wie es damals noch hieß, „Versehrtensport“ hat damals kaum jemand wahrgenommen. Diejenigen, die ihn betrieben hatten, waren hauptsächlich kriegsversehrte Männer. Für sie war der Sport eine Art Schutzraum, in dem sie unter sich bleiben konnten. Das war beinahe schon eine Selbsthilfegruppe, denn da steckte ganz stark ein zeittypisches Schammotiv drin. Andererseits wollte die Gesellschaft die Kriegsversehrten nicht im Alltag sehen, denn das bedeutete eine Erinnerung an den Krieg.

Der Behindertensport wurde aber schon von Anfang an öffentlich gefördert. Warum?

Ja, das hatte aber eine zweckdienliche Funktion. Behindertensport wurde als therapeutische Maßnahme angesehen, um die Kriegsopfer wieder erwerbsfähig zu machen. Die staatliche Finanzierung hatte also in erster Linie ein ökonomisches Motiv.

33, Historiker, gewann mit seiner im August erscheinenden Dissertation „‚Behinderung‘ überwinden? Organisierter Behindertensport in der Bundesrepublik Deutschland (1950–1990)“ den diesjährigen Deutschen Studienpreis.

Mit welchen Sportarten ging es los?

Vor allem mit Schwimmen, weil die Medizin darin einen therapeutischen Nutzen sah. Ansonsten waren es noch leichtathletische Disziplinen, aber auch Kegeln und, in Bayern, Krückenskilauf. Besonders die letzten beiden Sportarten wurden anfangs kritisch gesehen. Konnte man Kegeln noch als therapeutisch oder zweckdienlich betrachten, wenn es doch dabei vielleicht eher um die Geselligkeit bei Bier und Zigarette ging? Und besteht beim Skifahren nicht eine hohe Verletzungsgefahr? „Macht euren Körper nicht noch mehr kaputt!“, war die aus heutiger Sicht natürlich zu kritisierende Ansage. Von selbstbestimmter Freizeitgestaltung konnte noch keine Rede sein. Wie gesagt, es ging vorrangig um eine ökonomische Wiedereingliederung.

Wie sah es mit Leistungssport aus? Gab es richtige Wettkämpfe?

Leistungssport war verpönt, Wettkämpfe wurden stark eingehegt. Höchstens gab es „Versehrtensporttreffen“, bei dem es nur Sieger – erster, zweiter, dritter und so weiter – gab, so wie man es von den Turnern kannte. Meisterschaften gab es erst ab den 1970ern, als auch die Sozialwissenschaften und eine wissenschaftlich begleitete Behindertenpolitik die Chancen des Sports als Integrationsmotor erkannten. Da begann ein großer Wandel, sodass behinderte Menschen auch viel freier entscheiden konnten, welchen Sport sie betreiben wollen.

Hatten auch geistig behinderte Menschen Zugang zu Behindertensportvereinen?

Denen begegnete man fast schon mit Abscheu, was sich auch erst ab den 80er-Jahren zu ändern begann. Menschen mit geistiger Behinderung haben lange keinen Platz in den Behindertensportvereinen gefunden. Diese waren jahrzehntelang von den Kriegsversehrten der ersten Stunde dominiert worden. Es herrschte eine klare Hierarchie in den Vereinen, die sich an drei Kriterien entwickelte: Erstens, die Frage nach den Ursachen. Personen, deren körperliche Beeinträchtigung nicht auf eine Kriegsverletzung zurückging – sogenannte Zivilbehinderte – wurden marginalisiert. Zweitens betraf dies Frauen. Drittens dann war die Art der Behinderung, also ob geistig oder körperlich, von Bedeutung. Erst in den 1970ern entstanden sogenannte Inte­grationssportgruppen, die als Reaktion auf die Ausgrenzung zu sehen sind. Auch die Gründung des Special Olympics Deutschland 1991 fällt in diese Entwicklungsphase.

Wie entwickelte sich der Behindertensport im Norden Deutschlands?

Einerseits dominierten die Kriegsversehrten etwa in Schleswig-Holstein die Vereine sehr lange. Da gab es sehr enge Verbindungen zu Kriegsopferverbänden. In Hamburg allerdings gründete sich mit der „Integrationssportgruppe City Nord“ in den 80er-Jahren ein Verein, der Vorurteile aufzubrechen versuchte. Das fand in der Folgezeit viele Nachahmer.

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