Interview mit Popmusik-Experten Hentschel: „Heißester Gig des Kalten Krieges“

Autor Joachim Hentschel über sein Buch zur Musikgeschichte zwischen DDR und BRD, Punks im Osten und den gecancelten Udo Lindenberg.

Ekstase eindeutig erkennbar: der Gitarrist Bernd Römer von der DDR-Band Karat beim Auftritt 1981 Foto: Werner Mahler/Ostkreuz

taz: Herr Hentschel, warum haben Sie drei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung noch ein Buch geschrieben über die Popmusik in der DDR und BRD und ihr Verhältnis zueinander?

Joachim Hentschel: Mir ging es um die Dynamik, wie diese Szenen miteinander in Kontakt gekommen sind und den gesellschaftspolitischen Kontext. Ich selbst wurde ja in der sogenannten Deutschrockzeit in den 80ern sozialisiert, die anders als die Krautrock- oder Punkzeit lange als uncool galt. Dabei ist diese Ära sehr interessant, weil sie keine rein westdeutsche Geschichte widerspiegelt. Peter Maffays Durchbruchhit „Über sieben Brücken“ stammte aus der DDR. Karats „Blauer Planet“ wiederum war ein Top-Ten-Erfolg im Westen.

wurde 1969 geboren in Reutlingen, ist aufgewachsen bei Ulm, hat aber auch familiäre Wurzeln in Sachsen. Durch die Familie gab es regen Kontakt in die DDR. Er selbst war allerdings nur einmal kurz in Ostberlin während eines Schulausflugs. Hentschel hat Deutsch und Englisch auf Lehramt studiert, sich aber kurz vor Antritt des Lehrerberufs dem Journalismus zugewendet und 1998 bei Zeitungen und Radio als freier Mitarbeiter begonnen. Arbeitet für Süddeutsche Zeitung, FAZ, Deutschlandfunk. Veröffentlichte 2018 das Buch „Zu geil für diese Welt – Über die Kultur und das Lebensgefühl der 90er-Jahre“. Jüngst erschien bei Rowohlt „Dann sind wir Helden. Wie mit Popmusik über die Mauer hinweg deutsche Politik gemacht wurde“. (gl)

Berlin war eine Drehscheibe des Kulturaustauschs im Kalten Krieg?

Ja, schon weil Ostberlin das kulturelle Zentrum der DDR war, sowohl der offiziellen DDR-Kultur wie auch der Subkultur.

Sie sind in Süddeutschland aufgewachsen. Wie kamen Sie persönlich mit der DDR-Musik in Kontakt?

Als Acht-, Neunjähriger habe ich in Baden-Württemberg bereits DDR-Musik wahrgenommen. Da mein Vater und ein Opa aus Sachsen stammten und wir gelegentlich Besuch aus der DDR bekamen, war mein Interesse vielleicht etwas stärker ausgeprägt, als das üblich war. Ich war aber nur einmal auf Klassenfahrt in Ostberlin, wo wir die 25 Mark Zwangsumtausch für Klaviernoten und das „Kommunistische Manifest“ ausgegeben haben. Zu Hause hatte ich allerdings auch Platten von Ostbands. Karat, City, Puhdys oder die Sängerin Bettina Wegner kannte ich aus dem Süddeutschen Rundfunk. Ich habe den Ost-West-Unterschied bei der Musik gar nicht so krass wahrgenommen. Mein Buch behandelt letztlich die Frage: Wie wurde dieser Kanal eingerichtet, in dem Musik von einer Seite auf die andere gelangte?

Dieser Musiktauschverkehr begann ja sehr früh.

Ja, schon zu einer Zeit, in der jegliche Annäherung auf beiden Seiten ein heikles Thema war. Ab 1959 hat der westdeutsche Musikmanager Hans Beierlein die Rechte an mehreren DDR-Schlagern billig in Ostberlin erworben und sie mit neuen Sängern in der Bundesrepublik zu Hits gemacht. Später waren es auch Schlagersänger aus dem Westen, die als erste Popmusiker in der DDR auftreten dürften, vor allem in Ostberlin, gern in der TV-Show „Kessel Buntes“. Diese Art von Annäherung darf man nicht banalisieren von wegen: War ja eh wurscht bei Schlagersängern.

Mit den befürchtete man wohl allerdings auch wenig Ärger, da kaum Ausschreitungen wie vielleicht bei Rockbands zu befürchten waren, oder?

Die Sorge gab es sicherlich. Als die Rolling Stones 1965 die Waldbühne verwüsteten, wurde das von der DDR-Presse sofort ausgeschlachtet. Das Neue Deutschland druckte den Bild-Horrorartikel „Ich saß in der Hölle“ von Marianne Koch eins zu eins nach als Beleg für die Gewalt und Gehirnwäsche des westlichen Rocks. Danach verschärften sich auch die Schikanen für die eigenen Beatbands.

Trotzdem ging es auch im Rock- und Popbereich, vor allem im Zuge der politischer Entspannung, ziemlich hin und her, vor allem zwischen West- und Ostberlin?

Das lag einerseits daran, dass das trotz der Teilung der Stadt logistisch relativ einfach war, und andererseits, dass auf beiden Seiten viele Möglichkeiten der Zusammenarbeit und des Austauschs bestanden. In Ostberlin befanden sich das DDR-Fernsehen, die Plattenfirma Amiga und die Rundfunkstudios, in denen viel DDR-Musik produziert wurde. Auch die populärsten DDR-Künstler lebten in Ostberlin. Und in Westberlin gab es ebenfalls Plattenfirmen sowie eine Menge Auftrittsorte wie das Quartier Latin oder die Waldbühne, die für die Ostmusiker quasi um die Ecke lagen und günstig zu erreichen waren – wenn man einen Pass bekam.

Ostberlin schien fast eine Art Sehnsuchtsort für etliche Westkünstler, man denke nur an Udo Lindenberg, der mit dem „Sonderzug nach Pankow“ wollte.

Er schaffte es ja 1983 immerhin nach Mitte in den Palast der Republik, wo er bei einer Friedensgala auftrat. Seine Show kann man als das Leuchtturmereignis des deutsch-deutschen Musikaustauschs bezeichnen. Es hat im Grenzverkehr wohl dramatischere, spannungsreichere Episoden gegeben, aber Udo live in concert im Prunkbau Erich Honeckers, das war der spektakulärste Gig während der eiskalten Jahre. Er war auch im Westen umstritten, aber alles andere als läppisch. Was man auch daran sieht, dass die Funktionäre ihm anschließend die zugesagte DDR-Tournee cancelten, weil ihnen die Verehrung der DDR-Fans nicht mehr geheuer war. Außerdem hatte Lindenberg bei seinem Kurzauftritt die Sowjetraketen in der DDR kritisiert. Solche Momente oder unvorhergesehene Ereignisse wie die spontane Fantraube um Udo vorm Palast entfalteten eine große Wirkung. Musik hatte damals – anders als heute – auch eine Funktion als Nachrichtenmedium. Die Konzerte waren nicht zu unterschätzen.

Welche Musik im Westen angesagt war, darüber waren die meisten DDRler dank Radio und Westfernsehen auf dem Laufenden. Wie verhielt es sich anders herum?

In Westberlin kannte man sich einigermaßen aus, wenn man sich interessierte. Je weiter weg die Westdeutschen von der Grenze lebten, desto weniger Ahnung hatten sie in der Regel von der Ostmusik.

Was man in der DDR nicht mitbekam, waren eher die seltsamen ökonomischen Verflechtungen, oder?

Da war ich auch völlig überrascht. Die Westberliner Plattenfirma Hansa hatte in den 80ern ein Sublabel namens Rockoptus, für das es zeitgemäßes Rockrepertoire suchte. Dort erschienen Alben von den DDR-Bands Kreis oder Silly, die erst nachträglich auf Amiga veröffentlicht wurden. Man produzierte im DDR-Rundfunk in der Nalepastraße in Oberschöneweide auch kostengünstig Instrumentalmusik für die ARD-Nachtschiene. So entstanden Aufnahmen von glamourösen Gaststars wie Max Greger mit einem DDR-Tanzmusikorchester. Für die abgeriegelten Sonderproduktionen wurde der DDR-Rundfunk in D-Mark bezahlt. Oder: Als Wolf Biermann in der DDR keine Platten veröffentlichen durfte, hat er sie zu Hause in der Chausseestraße auf Tonband aufgenommen. Dann kam eine Frau vom CBS-Label aus Frankfurt/Main mit Tagespassierschein zu ihm und hat die Bänder abgeholt. Das war der Stasi sicher bekannt. Es wurde geduldet, denn die DDR verdiente über die Gema-Ausschüttungen an Biermann rückwirkend mit davon. Später gab es für Sillys Album „Februar“ eine deutsch-deutsche Koproduktion von Amiga und Ariola. Wenn es ums Geldverdienen ging, scheute man keine Berührung.

Auch im Underground wurde gemeinsame Sache gemacht?!

Auf beiden Seiten wurden ja die Subkulturen vom Mainstream abgelehnt, aber im Westen konnten eigene Netzwerke aufgebaut und Platten veröffentlicht werden. Das ging im Osten nicht. Trotzdem erschien 1983 mit heimlicher Unterstützung von Westlern die historische Punk-LP „DDR von unten“ in Westberlin. Leute wie Dimitri Hegemann hatten die Aufnahmen von Ostpunkbands in die Bundesrepublik geschmuggelt. Überhaupt wurde viel zwischen Ost- und Westberlin halb- bis illegal gehandelt. Ständig reisende Bands wie Puhdys oder Karat brachten Musikequipment mit in die DDR, wo sie es an andere Musiker verkauften.

Es gab sogar illegale Konzerte von Westbands in Ostberlin, zweimal allein von den Toten Hosen.

Für sie waren die regelrecht identitätsstiftend, weil sie auf einmal spürten, was Gefahr und Ärger mit der Polizei wirklich heißt. Punks im Osten konnten wählen zwischen Schnauzehalten und Knast. Da war es fast makaber, dass die Hosen den Nervenkitzel hatten und danach wieder rüberkonnten, während ihre Kollegen von der Ostberliner Band Planlos weiter mit der Gefahr klarkommen mussten. Das ist auch ein bitterer Aspekt in diesem Fall: Planlos konnten noch so erfindungsreich sein, hatten aber keine Zukunft. Für sie war es unmöglich, mit der Musik Geld zu verdienen und auch eine große Nummer zu werden.

Welche Bedeutung hatte der musikalische Grenzverkehr nach Ihrer Meinung für den Fall der Mauer 1989?

Ich habe mit vielen Protagonisten von damals gesprochen und fand die sehr unterschiedlichen Haltungen zu der Frage überraschend. Deutlich wurde mir, dass die musikalischen Begegnungen über die Mauer hinweg noch mal etwas anders waren als Waren-Import-Export. Es entstand eine unglaubliche Kraft, wenn Künstler auf der anderen Seite auftraten mit allen Unwägbarkeiten, die vor allem der DDR nicht gefielen. Zugleich gab es in der DDR einzelne Menschen, die nicht warten wollten, bis von oben ein Schlupfloch in der Mauer geöffnet wird, sondern die selbst Initiative zeigten. Mal waren das radikale Systemgegner aus der Subkultur, mal auch Leute aus dem Apparat, die die Musik liebten und Dinge im Rahmen des Erlaubten ermöglicht haben, ohne das System infrage zu stellen. Leute wie Rainer Börner, der hauptamtlich bei der Ostberliner FDJ-Bezirksleitung arbeitete, aber auch ein Rock-’n’-Roller war. Er hatte sich für Konzerte von Bob Dylan, Depeche Mode und Rio Reiser in Ostberlin eingesetzt, teilweise mit persönlichem Risiko, und auch den Rocksommer 1988 mit den Auftritten von Bruce Spingsteen und anderen in Weißensee geprägt. Er war zeitweise Stasi-IM und hat unangepasste Bands in der FDJ gefördert, womit er sie auch ein Stück weit ins System integrierte. An diesen Widersprüchen in der Biografie hatte er bis zu seinem Tod zu knabbern.

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