Internetmarktplatz für Selbstgemachtes: Mach dein Ding und werd reich
Auf dem Internetmarktplatz Etsy verkaufen Designer Selbstgemachtes an Kunden aus aller Welt. Kleines Business, das manchen viel Geld bringt.
BERLIN taz | Es geht nicht ums Geld. Zumindest redet an diesem Samstagmorgen im sonnigen Innenhof des alten E-Werks in Berlin-Mitte keiner darüber. Die Stimmung unter den knapp 520 Teilnehmern der Konferenz "Hello Etsy - A Summit on Small Business und Sustainability" ist ausgelassen. Die meisten von ihnen sind Kleinstunternehmer. Viele sind Künstler, Designer oder Handwerker. Sie alle vertreiben Hand- und Selbstgefertigtes über den Online-Marktplatz etsy.com.
Die Social-Commerce-Plattform ist nach eigenen Angaben mit 800.000 aktiven Verkäufern weltweit die erfolgreichste im "Do-it-yourself-Segment". 1,5 Millionen Artikel - darunter Möbel Schmuck, Spielzeug und Klamotten - wandern pro Monat über die virtuelle Ladentheke. Gegründet hat den Internetmarktplatz 2005 Rob Kalin in Brooklyn. Zuvor hatte der Tischler und Fotograf erfolglos nach einer Vertriebsplattform für Selbstgemachtes im Netz gesucht. Seitdem ist Etsy explosiv gewachsen und beschäftigt 260 Mitarbeiter.
Die Zauberworte der "Hello-Etsy"-Konferenz sind: Sustainability (Nachhaltigkeit), Community und Internet. Illustrieren kann man die Maximen des Etsy-Programms am Beispiel von Natalie Chanin. Die Modedesignerin kehrte in ihre Heimatstadt Florence/Alabama zurück und plante eine neue Kollektion - mit der Prämisse, ausschließlich lokale Ressourcen zu nutzen.
Reichtum mal anders
Bevor Chanin kam, war die kommunale Textilindustrie so gut wie ausgestorben. Doch die Näh- und Sticktraditionen des amerikanischen Südens waren in den Köpfen der Hausfrauen und Großmütter lebendig geblieben. Chanin konnte viele von ihnen für ihr Projekt begeistern. Seitdem werden Kleider, T-Shirts, Hemden und Pullis unter dem Label "Alabama Chanin" ausschließlich in Handarbeit und als "persönliches Unikat" produziert. Verwendet wird vor Ort angebaute Baumwolle und Recyclingmaterial, verkauft wird online. Als Chanin "Reichtum" definiert, setzt es tosenden Applaus: "Es geht darum, morgens aufzustehen und zu einem Job zu gehen, den man liebt."
Überhaupt geht es bei den meisten Veranstaltungen, neben dem Handwerkszeug (Social-Media-Tools, Branding, "Understanding Google Analytics"), eher um persönliche Geschichten als um Marktanalysen. In innern schimmern deutlich amerikanische Lebensmaximen durch: Geh raus, mach dein Ding, tu Gutes und sei erfolgreich. Etsy verleiht dem einen modernen mikroökonomischen Anstrich, der ebenso familiär wie kommunikativ, sozial und umweltbewusst wirkt.
Das gefällt der Kreativszene und den Abnehmern ihrer Produkte gleichermaßen: die Berliner Grafikerin Sanjini bietet ihre Siebdrucke seit einem Monat über Etsy an. Pro Bild zahlt sie 0,20 Cent Einstellungsgebühr sowie bei Verkauf 3,5 Prozent Marge an den Onlinemarktplatz. Ausschlaggebend dafür, sich bei Etsy registrieren zu lassen, waren die "sympathisch-schlichte Webpräsenz" sowie die "unheimlich große Zielgruppe", die man nun erreichen könne, erzählt Sanjini.
Kein so kleines Geschäft
Matt Stinchcomb ist der Europa-Chef von Etsy. Er hat im letzten Jahr das erste internationale Büro in Berlin eröffnet. Die Stadt sei die "kreativste innerhalb Europas", sagt Stinchcomb. Bei Etsy gehe es in erster Linie darum, nicht viel Geld zu verdienen, sondern den Leuten sowohl die Kraft als auch die Werkzeuge zu geben, sich selbst zu verwirklichen, erläutert er. Das Internet sei der "Kleber, der die (Kreativ-)Gemeinden" verbinde.
Diesem Aspekt mangelt es aber auf der Hello-Etsy-Konferenz ein wenig an kritischer Reflexion. Ob der "authentische Kontakt" zwischen Menschen etwas daran ändert, dass sich auch bei Etsy Verkäufer und Käufer treffen, um Geld gegen Ware zu tauschen, ist eine Frage, die hinter der Wohlfühlrhetorik des Kommunalen unbeantwortet bleibt. "Wir geben dem Handel eine Seele", heißt es bei Etsy im Netz.
Fraglos ist dieser Idealismus sowohl bei den Teilnehmern als auch bei den Vortragenden der Konferenz spürbar, nach dem selbstgegebenen Motto: "Das Zeitalter des Big Business ist vorbei - small is beautiful." Allerdings ist man bei Etsy auf dem besten Wege, Big Business zu werden. 2010 hat das Unternehmen ca. 226 Millionen Euro umgesetzt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestellerautor will in den Bundestag
Nukleare Drohungen
Angst ist ein lautes Gefühl
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland