Internetabstimmung zur russischen Geschichte: Der Name Russlands lautet Stalin
Wer verkörpert das russische Wesen am besten? Für die Russen selbst scheint die Antwort klar. Sie votieren für den sowjetischen Diktator Josef Stalin.
Russland sucht seine Besten. Seit zwei Monaten sind die Russen in einer Internetabstimmung aufgerufen, jene historische Figur zu ermitteln, die in 1000 Jahren Geschichte Russlands Wesen am trefflichsten verkörpert. Veranstalter ist der staatliche TV-Kanal "Rossija", das Unternehmen läuft unter dem Label "Russlands Name". Die BBC machte vor Jahren mit einem ähnlichen Projekt den Auftakt. Auch Deutschland ermittelte seine Größten. Die Briten entschieden sich für Winston Churchill, die Deutschen für das Dreigestirn: Adenauer, Luther, Karl Marx.
Und die Russen? Russlands Name lautet Stalin. Seit Wochen liegt der sowjetische Diktator vor dem letzten Zaren Nikolaus II. und Revolutionär Wladimir Lenin, der letzteren auf dem Gewissen hat, in der Gunst des Publikums weit vorn. 507000 Stimmen vereinigt er zurzeit auf sich, gefolgt vom Zaren mit 446000 und dem abgeschlagenen Lenin auf Platz Fünf (218000).
500 russische Größen waren ins Rennen gestartet. 50 Helden gelangten in die Endrunde - darunter der erste sowjetische Kosmonaut Jurij Gagarin, KPdSU-Generalsekretär Nikita Chruschtschow, der die Tauwetterperiode einleitete, Boris Jelzin, Menschenrechtler Andrej Sacharow und Felix Dserschinski, Gründer der bolschewistischen Geheimpolizei "Tscheka". Die zwölf Besten sollen im Herbst in TV-Shows porträtiert werden. Die Organisatoren erhoffen sich davon mehr Klarheit: "Wer verkörpert Russland und seine Vergangenheit, mit wem gehen wir in die Zukunft? Mit einem Versager, einem Heiligen, einem Verbrecher oder einem Genie" ?
Im schrumpfenden Reservat der aufgeklärten Öffentlichkeit rief das Abstimmungsverhalten laute Empörung hervor. Liberale Medien sahen darin erneut einen Beweis für die mangelnde Bereitschaft, sich der eigenen Geschichte zu stellen. Das ist bekannt. Neu war die hitzige Abstimmungsschlacht zwischen Kommunisten und Anhängern der Monarchie. Die Monarchisten wollten sich nicht ein zweites Mal geschlagen geben und klickten Nikolai II. in einer nächtlichen Offensive an die Spitze.
Der Triumph des Zaren währte nicht lange. Russlands Stalinisten stürzten den uneinsichtigen und brutalen Herrscher innerhalb eines Tages wieder vom Thron. Der offene Abstimmungsmodus gestattet jedem Nutzer eine unbegrenzte Zahl von Klicks, das erleichtert Manipulationen und lässt Zweifel an der Repräsentativität aufkommen. Dennoch am gesellschaftlichem Grundbefinden ändert das nicht viel. Für Mahner und Moralisten, Menschenrechtler und mutige Individualisten ist im kollektiven Volksbewusstsein nur begrenzt Platz. Tyrannen und Autokraten erfahren hohe Wertschätzung. Bei beherrschten Herrschern fühlt sich die Mehrheit nicht sicher aufgehoben.
"Das ist unsere Identität, auch das historische Bewusstsein und die Ideale richten sich danach aus", meint Boris Belenkin von der Nichtregierungsorganisation Memorial, die seit dem Niedergang des Kommunismus gegen das Vergessen stalinscher Gräuel anrennt. Im Porträt des Wettbewerbs werden die Verbrechen Stalins nicht geleugnet. Angesichts der Leistungen des Generalissimus erscheinen sie jedoch entschuldbar, ja eigentlich unvermeidlich. Stalin zwang den deutschen Faschismus in die Knie, setzte die Industrialisierung um und schuf einen starken Staat, aus dem die UdSSR als Supermacht hervorging. Selbst in der Architektur hinterließ er ein Erbe von ungekannter Qualität, so die Veranstalter: Moskaus Hochhäuser seien "wie alles unter Stalin, gediegen und für Jahrhunderte" gebaut worden.
Diese Lesart hat sich in der Ära Putin wieder durchgesetzt. Von der eigenen Historie hat die Mehrheit der Bevölkerung nur unscharfe Kenntnisse, stellten Soziologen des Lewada-Zentrums fest. Das Weltverständnis vieler Bürger sei in mythologisierten Darstellungen der Sowjetzeit befangen, die auch die jüngere Generation übernehme.
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