Intellektuellen-Verfolgung in Ungarn: Abrechnung nach alter Manier
Ungarns Regierung bedrängte erst die liberalen Medien, jetzt Intellektuelle und Künstler. Ein "Abrechnungsbeauftragter" ermittelt deshalb gegen liberale Philosophen.
Es waren krasse Rechtschreibfehler, die der ungarische Staatschef Pál Schmitt machte. In einer Widmung mit fünf Wörtern schaffte es der ehemalige Fecht-Olympiasieger, die Wörter "Staatsoberhaupt" und "Halt" in seiner Muttersprache grotesk falsch zu schreiben. So geschehen am 7. September 2010 im Restaurant Paprika Csárda im ungarisch-österreichischen Grenzort Hegyeshalom. Schmitt hatte die Widmung auf ein Blatt Papier geschrieben, eingerahmt hing sie dort an der Wand. Vor Kurzem entdeckten sie Journalisten des ungarischen Nachrichtenportals Hírszerzö.hu und veröffentlichten ein Faksimile.
Schmitt gilt als Erfüllungsgehilfe des nationalkonservativen Regierungschefs Viktor Orbán und als Mann, der intellektuell nicht gerade glänzt. Doch seine Rechtschreibung ist mehr als nur ein Beweis dessen. Ungarns Machthaber gerieren sich als wahre Hüter der ungarischen Sprache und nationaler Werte. Seit Orbáns Partei, der Bund Junger Demokraten - Ungarische Bürgerallianz (Fidesz-MPP) die Wahl im April 2010 mit Zweidrittelmehrheit gewann, wird Ungarn machtpolitisch und ideologisch umgebaut. Teil des Umbaus ist auch eine Art Kulturkampf, der sich vor allem gegen die urbane Budapester Intellektuellen- und Kulturszene richtet.
Die prominentesten Opfer sind eine Reihe liberaler Philosophen, unter ihnen auch die 81-jährige Ágnes Heller, seit Jahrzehnten eine der bedeutendsten osteuropäischen Denkerinnen. Gegen sie und mehrere ihrer Kollegen wird ermittelt, weil sie angeblich staatliche Forschungsgelder veruntreut haben. Von den Vorwürfen erfuhren die Philosophen Anfang Januar aus der Presse. Damals titelte die rechtsnationale Tageszeitung Magyar Nemzet ("Ungarische Nation"): "Heller und Co. ,verforschten' eine halbe Milliarde".
Umstrittenes Mediengesetz: Nach massiver internationaler Kritik hat die ungarische Regierung ihr Mitte Dezember verabschiedetes Mediengesetz Anfang März in einigen wenigen Punkten geändert: So wurden Blogs und abrufbare Medieninhalte im Internet von der bisher geltenden Verpflichtung zu ausgewogener Berichterstattung ausgenommen, Radio- und Fernsehsender müssen jedoch weiterhin ausgewogen berichten. Ein Passus, der die offene oder versteckte Beleidigung von Individuen oder Gruppen inkriminiert, wurde abgeschafft, bestehen blieb das Diskriminierungsverbot. Nicht abgeschafft oder geändert wurden zahlreiche Bestimmungen, denen zufolge Journalisten verpflichtet sind, an der Stärkung der nationalen Identität in Ungarn mitzuwirken, und die ihnen vorschreiben, über welche Themen sie zwecks nationaler Identitätsstärkung zu berichten haben.
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Kritik an der Reform: In Ungarn wie auch in anderen europäischen Ländern kritisierten Vertreter von Medien, Nichtregierungsorganisationen und zwischenstaatlichen Gremien wie Europarat und OSZE die Änderungen am Mediengesetz als völlig unzureichend. In Ungarn hat die größte Tageszeitung des Landes, Népszabadság ("Volksfreiheit"), Verfassungsklage gegen das Gesetz eingereicht.
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Die Verfassung: Derzeit lässt die ungarische Regierung im Parlament über eine neue Verfassung debattieren, die am 18. April verabschiedet werden soll. Wichtigster Bestandteil ist ein einleitendes "Nationales Glaubensbekenntnis". Verankert sind darin Nationalstolz, der Stolz auf das tausendjährige ungarische Reich, das Bekenntnis zur geistigen und seelischen Einheit des zerfallenen Großungarn und zur die Nation erhaltenden Rolle des Christentums. Außerdem sieht der Entwurf die Ehe von Mann und Frau als zu fördernde Lebensform an; Abtreibung soll nur noch sehr schwer möglich sein, Mütter mit Kindern sollen ein Mehrfachwahlrecht erhalten. (kv)
Eine Hetze wie früher
Noch bevor überhaupt Einzelheiten bekannt wurden, erklärte Magyar Nemzet die Philosophen bereits für schuldig. Sie hätten das Geld - es geht um umgerechnet 1,8 Millionen Euro - 2004/05 von der sozialistisch-liberalen Koalition als Belohnung für ihre liberale Gesinnung erhalten. "Meinungsdeformierer" seien sie, die Ungarn spalten wollten und die Heimat im Ausland an den Pranger stellen würden.
Als Ágnes Heller die Vorwürfe las, fühlte sie sich an kommunistische Zeiten erinnert. Seit Ende der fünfziger Jahre waren sie und ihr 1994 verstorbener Mann Ferenc Fehér drangsaliert worden. Im "Philosophenprozess" von 1973 erhielt Heller mit anderen regimekritischen Kollegen Berufsverbot. 1977 verließ das Ehepaar Ungarn. "Damals wie heute wurden wir als Liberale diskreditiert", sagt Heller. "Meinem Mann warf man damals Devisenvergehen vor, heute heißt es, ich hätte mich illegal bereichert."
Initiiert hatte die Ermittlungen der "Abrechnungsbeauftragte" der Regierung, Gyula Budai, vor 1989 Militärstaatsanwalt, später Aktivist des Fidesz-nahen Bauernverbandes Magosz. "Abrechnung" ist durchaus doppeldeutig gemeint: Budai soll nicht nur die Vergabe von öffentlichen Aufträgen und Fördermitteln unter der sozialistisch-liberalen Regierung von 2002 bis 2010 prüfen, sondern auch Stimmung machen. Kürzlich forderte ihn Orbán zu "mehr Eifer" auf, es bestehe "Abrechnungsbedarf".
Doch die Vorwürfe an die Philosophen sind eher dünn. Sie hätten, so heißt es beispielsweise, Forschungsgelder nicht für die vorgesehenen Themen verwendet oder widerrechtlich externe Firmen mit der Ausführung bestimmter Arbeiten beauftragt, etwa bei der Datenbankerstellung. In drei Fällen musste Budai die Ermittlungen einstellen, gegen drei andere Projekte wird strafrechtlich weiterermittelt, auch Ágnes Heller ist betroffen. "Die Vorwürfe sind lächerlich", sagt sie. "Ich habe keinen einzigen Fillér für die Leitung meines Projekts bekommen."
Der Philosoph György Gábor kann fast aus dem Gedächtnis vorrechnen, was in seinem dreijährigen Projekt über Religionsphilosophie wofür ausgegeben wurde. Zudem fand jedes Jahr eine Rechnungsprüfung statt, Gábor selbst bekam drei Jahre lang etwa 340 Euro monatlich. "Eigentlich leben wir Philosophen in Ungarn recht schäbig", sagt Gábor, "aber in den Augen der einfachen Leute sind wir jetzt eine Diebesbande, die Milliarden aus Ungarn herausgekarrt hat."
Der "Philosophenprozess" hat auch einen antisemitischen Aspekt. Nichts Geringeres behauptet ausgerechnet der konservative, der Regierungspartei Fidesz nahestehende Philosoph Gábor Gulyás. Mitte Januar warf er rechtsnationalen Medien wie der Magyar Nemzet vor, ihre Kampagne sei "offen intellektuellenfeindlich und versteckt antisemitisch". Prompt geriet er selbst ins Visier des Abrechnungsbeauftragten.
Tatsächlich wurden aus über dreißig Forschungsprojekten genau die geprüft, an denen die bekanntesten liberalen jüdischen Intellektuellen Ungarns mitarbeiteten - neben Ágnes Heller etwa Mihály Vajda und György Gábor. " ,Liberal' ist heute in den rechten Medien Ungarns gleichbedeutend mit ,jüdisch' ", sagt Heller, "so wie zu kommunistischen Zeiten das Wort ,Kosmopolit' "Jude" bedeutete."
Neben den Philosophen sind längst auch viele andere Kulturschaffende gebrandmarkt worden - als "Fremdherzige", "Vaterlandsverräter" und "Verschwörer gegen die Heimat". Unter ihnen befinden sich die Schriftsteller György Konrád, Péter Esterházy und György Dalos, der Dirigent Ádám Fischer und der Pianist András Schiff.
Manchmal lautet das vernichtende Etikett auch einfach "Schwuchtel". Zu einer solchen wurde in rechten und rechtsextremen Medien Róbert Alföldi erklärt, der Direktor des Budapester Nationaltheaters. Er hatte der rumänischen Botschaft anlässlich des rumänischen Nationalfeiertages am 1. Dezember 2010 einen Saal vermieten wollen, obwohl sich Rumänien 1920 das einstmals ungarische Siebenbürgen angeeignet hatte. Nach einem öffentlichen Aufschrei sagte Alföldi der Botschaft ab und entschuldigte sich öffentlich. Es half wenig. Rechtsextreme hetzen weiterhin gegen die "Schwuchtel Alföldi", im Parlament nennen ihn Abgeordnete der rechtsextremen Jobbik-Partei "Róberta". Kein Abgeordneter stört sich daran.
Seit Neuestem knöpft sich die Orbán-Regierung auch die moderne Kunst vor. Im Nationalen Entwicklungsministerium werden Dutzende staatlicher Investitionsprojekte aus der Zeit der sozialistisch-liberalen Regierungskoalition geprüft, zu denen auch Maler und bildende Künstler Werke beigesteuert haben. Der Vorwurf: Die ausnahmslos abstrakten Kunstwerke seien in Wirklichkeit gar keine.
Angriff auf abstrakte Kunst
Wieder war es die Zeitung Magyar Nemzet, die kürzlich als Erste von den Ermittlungen berichtete. Unter der Schlagzeile "Eine Milliarde für ,Kunstwerke' " giftete das Blatt gegen "formsprengende" und "als modern geltende" Kunst und fragte, ob "einfarbige Wände" und "nebeneinander gestellte, transparente Kunststoffwürfel" dem Staat Millionen Forint Wert sein dürften.
Die Kritikerin Anna Bálint, Expertin für zeitgenössische osteuropäische Kunst, war empört - doch nicht verwundert: "Die kulturelle Botschaft der jetzigen Machthaber besteht in Kitsch und verkitschter Volkskunst, für etwas anderes fehlt ihnen das Verständnis." Eine solche Einstellung bedrohe etwas sehr Grundsätzliches, "die Möglichkeit des Individuums, sich selbst auszudrücken und im öffentlichen Raum zu manifestieren".
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