Integrationsgipfel: Meilen- oder Stolperstein?
Angela Merkel versucht den Gipfel als Erfolg zu verkaufen. Ohne Teilnahme der türkischen Verbände kann er das kaum sein.
Für ein paar Minuten tut Angela Merkel so, als sei alles wunderbar gelaufen. Der zweite Gipfel, zu dem sie Migranten eingeladen hatte, sei "ein Meilenstein in der Geschichte der Integrationspolitik" gewesen, sagt die Kanzlerin, "weil wir heute einen Integrationsplan vorgelegt haben". Dass dieser Plan mit 400 Maßnahmen gemeinsam erarbeitet wurde, sei eine Neuerung, "wie wir sie vielleicht noch nie in der Geschichte unseres Landes hatten".
Der Nationale Integrationsplan bündelt die Initiativen von Bund, Ländern, Kommunen, Verbänden und Bürgern. Mit 400 Selbstverpflichtungen soll die Integration der 15 Millionen Menschen mit einem Migrationshintergrund verbessert werden. Ein Überblick über die wichtigsten Vorhaben:
Bildung: Der sichere Umgang mit der deutschen Sprache gilt als wichtigste Voraussetzung für Integration. Die Betreuungsplätze für Kinder unter 3 Jahren werden ausgebaut. Bis 2013 wird eine Versorgungsquote von 35 Prozent angestrebt. Mit einem Modellprogramm sollen Schulverweigerer wieder in die Schulen zurückgeholt werden. Die Länder wollen sprachliche Bildung in die Konzepte der Kindertagesstätten integrieren und Einrichtungen mit vielen Migrantenkindern fördern. Das Schulsystem soll durchlässiger werden. Schulen mit einem hohen Migrantenanteil sollen durch Senkung der Klassenfrequenzen, Erhöhung des Lehrpersonals und durch sozialpädagogische Fachkräfte unterstützt werden.
Integrationskurse: Das Stundenkontingent wird von 600 auf 900 Stunden aufgestockt. Es gibt differenzierte Angebot für Analphabeten, Jugendliche und Mütter. Die Länder wollen die Zusammenarbeit von Ausländerbehörden und Kursträgern verbessern. Die Stundenkontingente für die Integrationskurse der Eltern und Frauen werden ausgeweitet.
Wissenschaft: In Deutschland leben mehr als 180.000 ausländische Studierende und Wissenschaftler. Der Bund will den Studienstandort Deutschland als Land der Ideen weltweit positionieren und zugewanderte Akademiker fördern.
Integration in Kommunen: Das Bund-Länder-Programm "Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf - Soziale Stadt" wird fortgeführt. Die Kommunen verstehen Integration als Querschnittsaufgabe. In den Verwaltungen sollen mehr Migranten arbeiten.
Sport: Der Deutsche Fußball-Bund (DFB) will ein Netzwerk "Integration" aufbauen und fördert das Modellprojekt "Am Ball bleiben - Fußball gegen Rassismus und Diskriminierung".
Medien: Der Bund prüft die Förderung der Zusammenarbeit deutscher und türkischer Medien. Die Medien verpflichten sich, mehr über Migrationsthemen zu berichten.
Bürgergesellschaft: Bürgerschaftliches Engagement gilt als erfolgreicher Katalysator für Integration. Das Engagement der Migranten müsse anerkannt und gezielt gefördert werden.
Migrantenverbände: Die Organisationen der Migranten gingen eine große Zahl von Selbstverpflichtungen ein. So will die Türkische Gemeinde eine Bildungsoffensive für Eltern türkischer Herkunft starten mit dem Ziel, dass sich Eltern stärker für die Bildung ihrer Kinder einsetzen.
Wirtschaft: Die Ausbildungschancen jugendlicher Migranten sollen erhöht werden. Auch die öffentlichen Arbeitgeber wollen mehr Migranten beschäftigen. Die Gewerkschaften setzen sich dafür ein, dass ausländische Jugendliche unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus einen gleichrangigen Zugang zum Berufsbildungssystem erhalten. DPA
Solche Sätze muss Merkel sagen, damit in der "Tagesschau" auch positive Botschaften gesendet werden. Doch ihre Miene verrät, dass die Kanzlerin nicht glücklich ist. Nicht sein kann. Das liegt an den leeren Plätzen am Gipfeltisch. Ausgerechnet Vertreter der größten Migrantengruppe, der Deutschtürken, fehlten. Weil ihre ultimative Forderung nach einer Änderung des Zuwanderungsgesetzes nicht erfüllt wurde. Sie kritisieren vor allem, dass Migranten ungleich behandelt würden, weil die neuen, strengeren Regeln beim Familiennachzug nur für Ehepartner aus bestimmten Ländern wie der Türkei, nicht aber für Amerikaner oder Südkoreaner gelten. Türkische Zeitungen werfen Merkel deshalb "Rassismus" vor. Irgendwie, das weiß die Kanzlerin, muss sie auf den Boykott eingehen. Also sagt Merkel: "Der Bundesregierung stellt man keine Ultimaten." Schon gar nicht könne man verlangen, ein beschlossenes Gesetz zu ändern. Nachdem das klargestellt ist, wird Merkel wieder versöhnlich: "Meine Hand bleibt ausgestreckt." Alle Türken seien eingeladen, an der Umsetzung des Integrationsplans mitzuwirken.
Dazu hat sich Kenan Kolat, der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde, schon bereiterklärt. Draußen vor der Tür. Auch er sucht die Öffentlichkeit - und den Schulterschluss mit Teilnehmern, die zum Gipfel gehen, aber auch die Regierung kritisieren. Vor dem Kanzleramt filmen Fernsehteams, wie sich Kolat und DGB-Vize Annelie Buntenbach umarmen. Buntenbach sagt, sie könne Kolats Haltung "sehr gut nachvollziehen". Das Zuwanderungsgesetz stehe in "eklatantem Widerspruch" zu den Zielen des Integrationsgipfels, weil es "Abschottung" und "Misstrauen gegen Migranten" bedeute.
Kolat sagt auf die Frage, warum er seine Kritik nicht Merkel vortrage, das habe er schon vor einem Jahr beim ersten Gipfel getan - ohne Erfolg. In seiner Wut vergreift er sich im Ton: "Mit diesem Gesetz ist eine ethnische Diskriminierung festgeschrieben worden, zum ersten Mal in der deutschen Geschichte seit 1933." Natürlich habe er 1945 gemeint, rudert er später auf Nachfrage zurück, ein Vergleich mit der Nazizeit liege ihm fern. "Ich wollte aber darauf aufmerksam machen, dass ethnische Diskriminierung eine sehr gefährliche Entwicklung herbeiführen kann", sagt Kolat.
Merkel traf sich derweil mit anderen Migranten zu einem Gipfel-Vorgespräch. "Dort haben wir unsere Bedenken gegen das Zuwanderungsgesetz vorgebracht", berichtet Havva Engin, Professorin für Sprachförderung in Karlsruhe. "Immerhin", sagt Kemal Sahin, der Präsident der Türkisch-Deutschen Handelskammer, "ist das Gesetz diskutiert worden." Ohne den Boykott der türkischen Verbände wäre das nicht der Fall gewesen.
Merkel betont vor der Presse, das Gesetz richte sich nicht gegen Türken. Sprachkenntnisse zu fordern, sei EU-Richtlinie. Ausnahmen gebe es durchaus, bei Kranken oder Behinderten - und bei Menschen aus Ländern wie den USA, die kein Visum bräuchten. "Das hat mit Religion und anderen Dingen nichts zu tun."
Am Ende ist Engin mit dem Gipfeltreffen zufrieden. "Vor einem Jahr ging es vor allem um Wunschdenken, jetzt gibt es einen Plan", sagt die Professorin. Nun gehe es um die Umsetzung. Die Bundesregierung habe zugesagt, 2008 zu einem dritten Gipfel zu laden, auf dem die Ergebnisse evaluiert werden. "Ich glaube, das sind hier mehr als reine Lippenbekenntnisse."
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Entlassene grüne Ministerin Nonnemacher
„Die Eskalation zeichnete sich ab“
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung