piwik no script img

Institut für urbane FoolishitätBremens geheimnisvolle Krankheit

Chronisches Pflaster-Aufreißen

Kaum ist der Bremer Marktplatz einmal hindernisfrei, da wird das Pflaster schon wieder aufgerissen. Nicht sachgerecht verlegte Rohre sollen der Grund gewesen sein. Die Wissenschaftlerin Annemarie Weit-Sichtig vom Fachbereich für geistige Aussetzer am Forschungsinstitut für urbane Foolishität erklärte der taz, was wirklich dahinter steckt.taz: Frau Weit-Sichtig, Sie vertreten die These, dass Bremen unter akuter Sanaphobie leidet. Was bedeutet das?

Kassandra Weit-Sichtig: Sanaphobie ist die wissenschaftliche Bezeichnung für die Angst davor, dass eine Sache oder ein Zustand gesund oder im übertragenen Sinne heile ist und bleibt.

Ist das Zerstörungswut?

Nein. Auf gar keinen Fall darf man diese beiden Phänomene miteinander verwechseln. Zerstörungswut beruht auf Raserei. Sanaphobie dagegen ist – soweit bisher erforscht – ein ohnmächtiger Schrei um Hilfe. Ausgelöst wird diese seelische Störung durch ein traumatisches Erlebnis. Ich vermute, dass das Ende des Bremer Vulkan die Stadt traumatisiert hat.

Was hat die Werftenkrise mit dem Pflaster auf dem Markt zu tun?

Dass die Werften im Land Bremen fast vollständig kaputt gegangen sind, hat Bremen einen schweren Schock versetzt. Die Stadt hat noch keinen adäquaten Umgang mit diesem Verlust gefunden. Statt den Schmerz zu verarbeiten, fügt Bremen ihn sich zwanghaft immer wieder neu zu, fast schon autoaggressiv.

Das Gewicht der Straßenbahnen wird als Grund für Pflasterarbeiten genannt ...

Das ist Teil des Krankheitsbildes: Die Belastungen wurden unbewusst vorher nicht richtig berechnet. Diese unbewussten Fehlleistungen schaffen die Voraussetzung für erneute Selbstverletzungen der frisch geschlossenen Straßendecke.

Warum immer in der City?

Der Markt ist die empfindlichste Region, das Herz der Stadt. Jeden Tag befinden sich dort tausende Menschen, denen der Markt seine Wunden entgegenstreckt: „Seht her, ich kann nicht heile bleiben!“ Wir finden das Phänomen sehr ähnlich auch auf der Obernstraße. Dort schlägt sich Bremen keine Wunden. Statt dessen können wir eine zwanghafte Selbstblockade beobachten: Kaum sind Bauzäune und Absperrketten verschwunden, werden sie auch schon wieder aufgebaut.

Gibt es Heilungschancen?

Das ist kaum zu beantworten. Bremen laboriert schon sehr lange an Sanaphobie. Es besteht die Gefahr, dass das Kranheitsbild bereits chronisch geworden ist. Interview: ube

40.000 mal Danke!

40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen