Inklusives Theater in Berlin: „Freudig scheitern“
„Inklusion Bühnenreif“ ist ein Begegnungsort für Menschen mit und ohne Behinderung. Denn Theater hilft, sich in andere hineinzuversetzen. Ein Besuch.
Ich betrete den großen, hohen Saal, in dem der Workshop abgehalten wird. Bevor ich den Organisatoren des Workshops vorgestellt werde, bekomme ich noch einen Corona-Antigentest in die Hand gedrückt. „Wegen den Krebspatienten“, heißt es.
Wolfgang Wendlandt ist Diplom-Psychologe, Gesprächspsychotherapeut und Verhaltenstherapeut. 2019 gründete er gemeinsam mit Linda Steuernagel „Inklusion Bühnenreif“.
Für sein Lebenswerk bekam er gerade das Verdienstkreuz am Bande von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier verliehen. Er trägt es aber nicht, es sei ihm zu hässlich, sagt er. Das Thema an diesem Tag sei „Heiter scheitern“, erklärt er. Zuletzt hießen die Workshops „Sich zeigen“ oder „Neue Wege gehen“. „Wir kriegen dich schon auf die Bühne!“, sagt er auch zu mir. Er wird recht behalten.
„Inklusion Bühnenreif“ soll eine Begegnungsplattform für Menschen mit und ohne Behinderung schaffen. Sozialphobiker, sehbehinderte Menschen, Menschen, die stottern, und Menschen mit Krebserkrankungen sind hier. Sie wollen gemeinsam Theater spielen – ohne Angst vor Misserfolg. „Wir werden auf der Bühne heute ausprobieren zu scheitern und freudig zu scheitern!,“ sagt Wendlandt.
Weiche, klangvolle Töne
Noa Winkler ist seit 2020 ehrenamtlich bei „Inklusion Bühnenreif“ dabei und unter anderem für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig. Ich frage, warum genau ein Theaterworkshop gewählt wurde, um Menschen mit und ohne Behinderung zusammenzubringen. „Viele Spiele und Übungen aus der Theaterwelt helfen, aus sich herauszukommen und in den Kontakt mit anderen zu treten“, sagt Winkler.
Dann sitze ich in einem Sesselkreis mit etwa 30 Menschen, die meisten schätze ich auf um die 60, es sind aber auch einige jüngere da. Im Hintergrund spielt eine Frau auf einer Handpan, einem metallenen Instrument, das aussieht wie ein kleines UFO. Weiche, klangvolle Töne gehen davon aus und erfüllen den Raum.
Wolfgang Wendlandt steht auf der Bühne vor einem schwarzen Vorhang. Bevor es losgeht, stellt er sich noch allen Neuen vor und weist auf den „Kummerkasten“ hin: Eine Ehrenamtliche meldet sich als Ansprechperson für Menschen, denen etwas auf dem Herzen liegt.
Das Aufwärmen übernimmt Noa Winkler. Die Sessel werden weggeschoben, wir stehen im Kreis und beginnen uns alle im Takt zu bewegen und mit den Fingern zu schnippen. Mir ist peinlich, dass ich überhaupt nicht mit den Fingern schnippen kann, ich hoffe, dass es niemand merkt.
Sich gesehen fühlen
„Ich bin Noa“, singt Noa Winkler laut in die Runde. Noch bevor ich mich wundern kann, was jetzt passiert, antwortet die Gruppe: „Du bist Noa!“ So geht es in der Runde weiter, bis ich drankomme. Ich werde kurz nervös, aber dann bringe ich doch meinen Namen über die Lippen. Von 30 Menschen, die ich noch nie in meinem Leben zuvor gesehen habe, kommt ein lautes „Du bist Livio!“ zurück. Ich fühle mich überraschend wohl und gesehen.
Nach dem gemeinsamen Aufwärmen betritt Wolfgang Wendlandt wieder die Bühne. Er steht vor einem Stuhl und will auf ihn draufspringen. „Ich bin krebsbehindert, ich habe eine lange Narbe an meinem Bein“. Er streift mit seiner Hand sein rechtes Bein entlang. „Warum will ich auf diesen Stuhl springen? Will ich scheitern? Muss ich scheitern? Wir scheitern, wenn wir an unsere Grenzen gehen.“
Wendlandt weiß von vornherein, dass er es nicht schaffen wird, auf den Stuhl zu springen. Deswegen hat er sich Hilfe mitgebracht. Er nimmt ein Blatt Papier, legt es vor sich auf den Boden, geht in die Knie, sein Körper bereitet sich auf den Absprung vor. Und dann springt er auf das Blatt Papier. Ringsum wird geklatscht. „Scheitern“, sagt er, „ist abhängig von den eigenen Einstellungen, davon, was man von sich verlangt. Oft stellen wir uns zu hohe Ziele.“
Daraufhin wird gemeinsam gesungen und ein Gedicht improvisiert. Man merkt, dass manche Menschen hier an ihre Grenzen gehen. Dass sie sich überwinden müssen, um sich zu zeigen. Trotzdem machen sie es. Sie singen, obwohl sie denken, dass sie nicht singen können, oder sie trauen sich trotz Stottern auf die Bühne. Und die Gruppe nimmt sie auf. „Für mich ist das nicht ganz so leicht“, sagt ein Teilnehmer, „aber die ganze Atmosphäre hier und die freundlichen Leute, die machen es einem dann leichter, auf die Bühne zu gehen und mitzumachen.“
Spiel und echtes Leben
Pause. Es gibt Kaffee, Tee, Kekse und Obst. Es ist eine ruhige, entspannte Stimmung. Ich sitze an einem Tisch gemeinsam mit zwei jüngeren Frauen und einem Mann, der zum ersten Mal hier ist. Er hat einen Flyer über das Projekt gesehen und war interessiert. Manche hören von FreundInnen von der Gruppe, anderen wird sie von TherapeutInnen empfohlen. Wieder andere kommen über das Nachbarschaftshaus dazu oder hören in den sozialen Medien von „Inklusion Bühnenreif“. Auch eine Logopädin ist heute hier mit einem ihrer Patienten.
Nach der Pause geht es ans Theaterspielen, zunächst Improvisationstheater. Dabei erzählt jemand eine erfundene Situation in wenigen Worten, und andere spielen diese dann auf der Bühne. Ein paar Szenen werden gespielt, zum Beispiel gibt es einen fiesen Busfahrer, der Fahrgäste nicht mehr zusteigen lässt und einfach abfährt.
Es wird auch diskutiert: Wie fühlt man sich in solchen Situationen im echten Leben? Wie verhalten sich Menschen zueinander? Viele wünschen sich mehr Verständnis und Rücksicht auf ihre Bedürfnisse.
Dann wird Playback-Theater gespielt, eine besondere Form des Improvisationstheaters. Eine Person sitzt am Rand der Bühne und erzählt eine Geschichte aus ihrem Leben. Auch hier geht es ums Scheitern. Vier Personen stehen auf der Bühne und versuchen, die Geschichte darzustellen.
Aktives Zuhören
„Die SpielerInnen werden beim Playback-Theater gefragt, achtsam der Geschichte der ErzählerIn zu lauschen und sich dann in die Gefühls- und Erlebenswelt hineinzuversetzen. Dabei können Vorurteile abgebaut und andere Lebensrealitäten erlebbar gemacht werden“, sagt Noa Winkler.
Ich will das auch ausprobieren. Ich erzähle, wie ich von zu Hause ausgezogen bin, um ins Auslandssemester zu gehen. Wie ich gedacht hatte, ich werde alles alleine schaffen, werde meine Mutter nicht um Geld bitten, mir alles selbst finanzieren, sie hat ja selbst nicht viel. Irgendwann bin ich dann aber draufgekommen, dass ich es eben doch nicht alleine schaffe und Unterstützung benötige. Ich erzähle davon, wie schlecht ich mich gefühlt habe, als ich meine Mutter nach Geld fragen musste. Es fühlt sich sehr verletzlich an, so eine persönliche Geschichte vor ganz fremden Menschen preiszugeben. Ich bekomme Gänsehaut.
Dann sehe ich, wie meine Geschichte auf der Bühne gespielt wird. Wie behutsam sie aufgegriffen wird, wie die SchauspielerInnen sich in mich hineinversetzen und respektvoll meine Gefühlswelt offenbaren.
Zunächst sehe ich meine Vorfreude und Hoffnung auf ein selbstständiges Leben auf der Bühne. Dann die Scham, die ich verspürte, als ich das Gefühl hatte, gescheitert zu sein. Und zum Schluss noch die Erleichterung, als ich realisierte, dass mich meine Mutter immer unterstützt. All das sehe ich auf der Bühne, gespielt von Menschen, die mich noch nie zuvor gesehen, mir aber aktiv zugehört haben und die versucht haben, zu fühlen, was ich gefühlt habe. Das berührt mich.
„Es ist schön, dass es hier so einen Safe Space gibt. Dann weiß man, wenn man runterfällt, ist es immer weich“. sagt ein Teilnehmer am Ende in der Feedbackrunde. Diesen Safe Space habe ich auch gespürt. Zu keinem Zeitpunkt des Workshops habe ich mich fehl am Platz gefühlt. Weil Fehler nicht gezählt werden, weil man nicht beurteilt wurde. Und weil sich das unglaublich befreiend anfühlt.
2021 wurde ein Dokumentarfilm über „Inklusion Bühnenreif“ gedreht. Zu sehen ist er am 15. 3.2024 um 18 Uhr im Bundesplatz-Kino in Berlin.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos