„Inklusion“ an Hessens Schulen: Schön wär's ja
Klingt gut: Hessens Schulen führen die Inklusion ein. Allerdings unter Vorbehalt: Ohne Rampe für einen Rollstuhl kann die Schule jemanden ablehnen.
Heute ist Yilmaz* Tagesmeister. Bevor der Unterricht beginnt, muss er ein paar Dinge erledigen: das Datum an die Tafel schreiben, ein Thermometer vor das Fenster legen. Er erledigt das mit vollem Mund. Obwohl er früher aufsteht als die anderen, frühstückt er erst in der Schule.
40 Minuten ist er morgens mit dem Sammeltaxi unterwegs. Yilmaz hat Glasknochenkrankheit. Nicht jede Regelschule in Frankfurt würde ihn aufnehmen. Hier an der Münzenberger Grundschule im Stadtteil Eckenheim geht das.
Im Kreis erzählen die Kinder vom Wochenende. Sie haben türkische Hochzeiten gefeiert, Fußballturniere verloren oder sich die Welpen von Nachbarn geliehen. „Was ist Welpe?“, fragt einer, und ein anderer erklärt es. Dorothee Nagel, die Lehrerin, moderiert. Viertel nach neun muss das Thermometer abgelesen werden. Woran sieht man, dass es Viertel nach neun ist?
Während Integration Andersartige in die Gemeinschaft eingliedert, geht Inklusion davon aus, dass in einer Gemeinschaft jeder anders ist. Ein inklusives Bildungssystem erachtet Heterogenität als normal und sucht eine Synthese von Schul- und Sonderpädagogik.
Das uneingeschränkte Recht,eine allgemeine Schule zu besuchen - ohne Ressourcenvorbehalt -, haben Schüler bisher nur in Hamburg. Laut einer aktuellen Studie der Bertelsmann Stiftung gehen in Schleswig-Holstein fast die Hälfte der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf auf eine reguläre Schule, in Berlin und Bremen mehr als 40 Prozent, der Bundesdurchschnitt liegt bei rund 20 Prozent, in Hessen sind es nur etwa 15 Prozent, noch weniger nur in Niedersachen (8,5 Prozent).
Die meisten Sonderschüler sind nicht schwer behindert, sondern haben Lernschwierigkeiten, Probleme mit dem Verhalten oder der Sprache.
Für das inklusive Modell in Hessen hat die Studie der Bertelsmann Stiftung einen Mehrbedarf von 380 Lehrern errechnet, der mit rund 27 Millionen Euro im Jahr zusätzlich zu Buche schlagen würde.
Die Kinder der 3a lernen in einer GU-Klasse, im Gemeinsamen Unterricht. Von 19 Schülern haben vier Anspruch auf sonderpädagogische Förderung, weil sie körperliche Einschränkungen haben oder schwerer lernen. Nagel ist Förderschullehrerin, sie unterrichtet die Klasse gemeinsam mit einem Kollegen. 12 Grad Celsius vermeldet der Tagesmeister. Aber warum sagen wir eigentlich Celsius?
20 Schüler, zwei Lehrer
Andersartigkeit ist in der 3a normal: Manche Kinder sind acht, andere schon zehn Jahre alt. Sie haben unterschiedliche Hautfarben, ein paar Jungs tragen die Haare lang. Einige haben Lese-Rechtschreib- oder Rechenschwäche, ein Kind Zöliakie, es darf kein Getreide essen. In der Schule sprechen die Kinder Deutsch, zu Hause auch Twi, Bengali, Tigrinisch, Türkisch, Kurdisch, Urdu und Englisch.
Zum Ende der großen Pause, wenn die Kinder frühstücken, liest ihnen ihr Lehrer Manfred Hilberg aus „Jim Knopf“ vor. „Was ist schmutzeln?“, fragt Daniel. „Schmunzeln ist so wie lächeln“, antwortet Josh. Wenig später fragt Josh: „Was ist verheißungsvoll?“ Hilberg lobt sie, wenn sie nachfragen.
Seit etwa 25 Jahren gibt es GU-Klassen in Frankfurt, momentan an 17 von über 160 Schulen. In der Münzenberger hat jeder Jahrgang eine. Keine hat mehr als 20 Schüler, alle haben zwei Lehrer.
Diese Konditionen soll es in Zukunft nicht mehr geben, GU-Klassen sind ein Auslaufmodell. Paradoxerweise opfert sie die schwarz-gelbe Landesregierung ausgerechnet unter dem Motto Inklusion – in der gemeinsames Lernen behinderter und nicht behinderter Schüler die Regel ist.
Unter Vorbehalt
2009 hat Deutschland die UN-Behindertenkonvention ratifiziert, die Inklusion als Menschenrecht definiert. Hessen muss, wie alle Länder, auf ein inklusives Bildungssystem umstellen. Ab Sommer haben alle hessischen Schüler das Recht, eine allgemeine Schule zu besuchen, auch wenn sie dabei mehr Unterstützung brauchen, mit körperlicher oder geistiger Einschränkung leben.
Doch dieses Recht steht im hessischen Schulgesetz unter Ressourcenvorbehalt: Es muss nicht eingelöst werden, wenn entsprechendes Personal, Räume und Ausstattung fehlen. Eine Schule mit Treppen wird ein Kind im Rollstuhl abweisen dürfen, wenn sie keine Rampen hat. Wenige Monate vor Schulbeginn ist die Verordnung, die das neue Schulgesetz umsetzen soll, immer noch ein Entwurf, der Landeselternrat, der zustimmen muss, lehnt ihn ab.
Er sei voller „Soll-Vorschriften“, sagt Astrid-Müller Wankel, die bedeuten, dass „etwas gewünscht wird, aber nicht umgesetzt werden kann“. Die Schulleiterin der Münzenberger hat einen freundlichen Blick, aber müde Augen, die aufblitzen, wenn sie sagt: „Ich bin wirklich zornig.“
Was Kinder erwartet, die es trotz Vorbehalt auf eine allgemeine Schule schaffen, weiß bisher keiner genau. Aber: Kleinere Klassen werden nicht mehr garantiert, und Sonderpädagogen sollen nicht mehr zum Kollegium gehören.
Müller-Wankel will Inklusion. „Jede Form der Selektion ist eine Kränkung für den, der nicht dazugehören kann“, sagt sie. Sie weiß, dass gemeinsames Lernen funktioniert. Aber es sei Teamarbeit. An der Münzenberger fördern Sonderpädagogen nicht nur, sie unterrichten auch Fächer.
Doppelt so große Zahlen
Nagel und Hilberg planen und lehren meist gemeinsam. Die Drittklässler subtrahieren oder addieren schon Hunderter. Dafür hat Hilberg verschiedene Arbeitsblätter vorbereitet. Für Daniel, der schlecht sieht, müssen die Zahlen doppelt so groß sein. Bei anderen hat er die Aufgaben an deren Entwicklungsstand angepasst. Während er hier und da hilft, sitzt Nagel neben einem Mädchen, das noch lernt, Zehner und Einer zu unterscheiden. Bei Bedarf werden große rote und kleine grüne Würfel eingesetzt.
Der Entwurf sieht vor, Sonderpädagogen wie Nagel auf Förder- und Beratungszentren zu verteilen. Von dort aus sollen sie Schulen und Schüler betreuen: höchstens vier Stunden pro Kind in der Woche, bei Einschränkung der geistigen Entwicklung könnten es bis zu sieben mehr werden – schon jetzt wird im Staatlichen Schulamt aber mit weniger kalkuliert. „Wie soll das funktionieren“, fragt sich die Rektorin Müller-Wankel, „allein das zu koordinieren?“
Es gibt auch didaktische Einwände. Lernen beruht auf Beziehungen. „Wenn ich mit dem Köfferchen herumziehe“, sagt Nagel, „kriege ich doch nichts mit von den Kindern“, nichts von ihrer allgemeinen Entwicklung – und schon gar nichts vom Wochenende.
Der Anspruch eines Kindes auf Förderstunden wurde bereits in der Vergangenheit ständig gesenkt. Aber mit 18 Wochenstunden kann Nagel täglich präsent sein. Die Lehrer rechnen Zuwendung zum Einzelnen nicht ab wie ein Serviceunternehmen.
Vielleicht ist das der Grund, dass die Schüler nicht so genau wissen, wer unter ihnen speziellen Förderbedarf hat. Die Vorteile des Zusammenseins können sie aber benennen: In einer Klasse, wo alle schwer verstehen, könne man nie den Nachbarn fragen, sagt Niels, „immer nur den Lehrer.“ Und der große Miri, der den Arm um den zierlichen Yilmaz legt, sagt, er lerne von ihm, „wie der sich gerade so fühlt“.
Manfred Hilberg, der seit 15 Jahren GU-Klassen unterrichtet, ist überzeugt, dass alle Kinder profitieren. „Sie lernen Respekt und Toleranz.“ Hilberg sieht das, wenn er mit den Schülern in den Bus steigt, um zum Schwimmen zu fahren. Die Plätze werden einfach aufgefüllt. Der Lehrer unterrichtet auch andere Klassen. „Da gibt es mitunter schon Streit, wenn Jungs neben Mädchen sitzen sollen.“ Das Motto, das er den Kindern ausgibt, ist: Ihr müsst euch nicht lieben, aber zusammenarbeiten können.
Weite Wege
Auf Yilmaz müssen Lehrer und Erzieher achten, weil er sich leicht etwas brechen kann. Gern wäre er in Elijahs Hort gegangen, aber „der hatte zu viele Treppen“. Von Hort zu Hort zu ziehen und solche Begründungen zu hören, war sicher kein würdevolles Erlebnis. Dass er darüber spricht, sei neu, sagt Nagel. Er sei selbstbewusster geworden, weil er erfahren habe, dass er seine Krankheit nicht verstecken muss. Der integrative Hort, der ihn endlich aufnahm, liegt wieder in einem anderen Stadtteil. Für sein Selbstbewusstsein zahlt Yilmaz einen Preis: „Wo ich wohne, habe ich keine Freunde.“ In einem wirklich inklusiven Bildungssystem wären die Wege kürzer.
Das Land verteilt jetzt Ressourcen um. In den GU-Schulen wird der Standard sinken, um auch anderen Schulen mit Förderlehrerstunden zu versorgen. Die Sonderschulen will das FDP-geführte Kultusministerium erhalten. Das wenig ehrgeizige Ziel ist, die Zahl der Schüler dort „in den nächsten Jahren“ von rund 4,4 auf 4 Prozent zu senken. Sonderschulen zu unterhalten und inklusive Regelschulen zu etablieren ist teuer und Bildungsexperten zufolge die Ursache für zu knappe Ressourcen.
Etwa 125 Kinder mit Förderbedarf möchten im August in Frankfurter Regelschulen eingeschult werden, rund 55 werden es schaffen, heißt es im Staatlichen Schulamt. Wie immer schon gebe es deutlich mehr Anträge, als vernünftig umgesetzt werden könne. Mehr Lehrerstellen wurden nicht zugewiesen.
Inklusion heißt, dass Unterschiede dazugehören, nicht, dass sie verschwinden. Deshalb brauchen auch im inklusiven Unterricht einige mehr Unterstützung als andere. In ihrer aktuellen Studie kommt die Bertelsmann Stiftung zu dem Urteil, dass das ohne – durchaus bezahlbare – zusätzliche Kosten und Lehrer nicht geht. Inklusive Bildung funktioniere nicht ohne Qualität.
Dorothee Nagel weiß, was das heißt. Manche Eltern von Vorschulkindern fragen sie auf Infoabenden ängstlich, ob es „normale“ Kinder aus GU-Klassen auf das Gymnasium schaffen. Da kann sie beruhigen. Doch schon jetzt stehen auch in der 3a zwei Mäppchen beim Rechnen senkrecht, damit der Nachbar nichts sieht. Druck und Konkurrenz kämen mit den ersten Noten, sagt Nagel, und nähmen zu vor dem Wechsel zur weiterführenden Schule. Ausgerechnet Eltern von leistungsstarken Kindern würden dann oft Bremsklötze im Unterricht suchen und benennen. Wenn Inklusion nicht funktioniere, weil alle damit überfordert seien, „werden Kinder den Buhmann bekommen“.
*Namen der Kinder geändert
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