Initiative gegen sexuelle Gewalt: Geschult für alle Fälle
Ab September sollen Berliner Schulen ein Schutzkonzept gegen sexuelle Gewalt entwickeln – auch, um besser vorbereitet zu sein, falls ein Übergriff passiert.
An einer Berliner Grundschule gibt es schon länger Gerüchte über einen Lehrer, er sei manchmal komisch, komme den Schülern nahe. Dann erzählt ein Sechstklässler seinen Eltern, der Mann habe ihn absichtlich am Penis berührt. Das sorgt an der Schule für große Aufregung. Der Vorwurf spaltet das Kollegium: Die einen glauben dem Jungen, die anderen verteidigen den Lehrer. Konsequenzen beschließt die Schulleitung nicht. Der Sechstklässler wechselt nach den Sommerferien sowieso an eine Oberschule. Der Lehrer bleibt. Und unterrichtet weiter.
Von diesem schon länger zurückliegenden Vorfall berichtet Martina Hävernick vom Verein Tauwetter, der Opfer sexualisierter Gewalt berät und auch an Schulen tätig ist. „Das ist damals nicht gut gelaufen“, sagt sie. Wie aber sollte eine Schule angemessen reagieren, wenn es den Verdacht eines sexuellen Übergriffs gibt? Wer sollte wann davon erfahren? An welcher Stelle muss die Schulleitung die Polizei einschalten? Und wie lässt sich verhindern, dass es überhaupt so weit kommt?
Schwierige Fragen, auf die Schulen in Zukunft besser vorbereitet sein sollen: Mit Beginn des neuen Schuljahrs wird Berlin an der Initiative „Schule gegen sexuelle Gewalt“ teilnehmen, die vom Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Johannes-Wilhelm Rörig, ins Leben gerufen wurde. Ein bis zwei SchülerInnen sind Schätzungen zufolge pro Klasse von sexueller Gewalt durch Erwachsene betroffen. Die Senatsverwaltung für Bildung teilt mit: „Es ist geplant, für jede Schulart eine Pilotschule zu gewinnen, die beispielhaft ein Schutzkonzept erarbeitet.“
Dabei soll es nicht nur um Übergriffe durch PädagogInnen gehen. „Es gibt viel sexuelle Gewalt auch unter den Jugendlichen, etwa beim Cybermobbing“, sagt Rörig der taz. Oder aber ein Kind erlebt zu Hause Übergriffe. Geht es nach Rörig, dann lernen alle Mitarbeitenden an Schulen in Fortbildungen, was Signale von Kindern sein können, die Opfer von Missbrauch wurden, welche Strategien Täter haben – um so schneller intervenieren zu können.
Wichtig sei es, dass Schulleitungen ein Schutzkonzept gemeinsam mit dem Kollegium, aber auch mit den SchülerInnen entwickeln, sagt der Missbrauchsbeauftragte. So müsse geklärt werden, an wen sich Betroffene im Fall eines Übergriffs wenden können. Schulen könnten sich auch selbst Regeln geben. „Zum Beispiel: In der Umkleide wird nicht fotografiert. Oder: Bei einem Gespräch unter vier Augen muss immer die Tür offen sein.“ Rörig sagt: Wenn alle wissen, woran sie sind, helfe das auch den Lehrern.
„Veränderung der Schulkultur“
Für Martina Hävernick von Tauwetter bedeutet die Entwicklung eines Schutzkonzepts vor allem, dass es an Schulen einen offenen Umgang miteinander gibt. Sie sagt: „Es geht um eine Veränderung der Schulkultur. Das muss gelebt werden.“
Zum Schutzkonzept gehört auch ein Interventionsplan: Wer ist zuständig und wird informiert, wenn es einen Vorfall gibt? Das könnten beispielsweise SozialarbeiterInnen sein. Die Leitung müsse in Kenntnis gesetzt werden und, da es sich um den Verdacht der Kindeswohlgefährdung handle, auch das Jugendamt, sagt Hävernick. Zunächst sei es aber vor allem wichtig, das Kind ernst zu nehmen. Betroffene koste es häufig viel Überwindung, über sexuelle Gewalt zu sprechen. Hävernick sagt: „Die Person, der sich das Kind anvertraut, sollte zeigen, dass sie ihm glaubt.“
Wie man danach vorgehe, sei von Fall zu Fall unterschiedlich. Die Zuständigen müssten klären: Was muss getan werden, um die Kinder zu schützen? Gibt es weitere Betroffene? „Wann der Täter mit den Vorwürfen konfrontiert wird oder wann die Polizei eingeschaltet wird, hängt von den Umständen ab“, sagt die Beraterin. Je nachdem könne eine Schulleitung auch härtere Konsequenzen ziehen – etwa einen Pädagogen vom Unterricht freistellen oder suspendieren.
Immense Belastung
Das Problem bei sexuellen Übergriffen: Es gibt meist keine Zeugen, nur die Aussage der Betroffenen. Was, wenn ein Junge oder Mädchen sich an seinem Lehrer rächen will und ihn falsch beschuldigt? Hävernick sagt: „Unsere Erfahrung ist: Das kommt eigentlich nicht vor.“ Für die Kinder und Jugendlichen selbst sei das, was auf einen solchen Vorwurf folge, eine immense Belastung. „Wenn ich einem Lehrer eins auswischen will, mache ich das anders.“ Auch Rörig sagt: Der Schutz der Kinder müsse Priorität haben.
Sollte sich ein Verdacht tatsächlich als falsch herausstellen, müsse der Lehrer natürlich rehabilitiert werden, so der Missbrauchsbeauftragte. „Auch das gehört zu einem Schutzkonzept.“ Die Schulleitung dürfe den Vorwurf nicht im Raum stehen lassen, sondern müsse den Kollegen, den SchülerInnen und den Eltern klar kommunizieren, dass der Lehrer unschuldig sei.
In jedem Fall sollte die Leitung das Kollegium, aber auch Eltern und je nach Alter auch die SchülerInnen darüber informieren, was vorgefallen ist, wie die Schule darauf reagiert hat. Auch das ist nicht einfach: Der Name des betroffenen Kindes sollte dabei nicht öffentlich verhandelt werden.
„Keine zusätzlichen Stellen“
Dass sich die Berliner Schulen auf solche Dinge grundsätzlich vorbereiten, ist ohne Frage sinnvoll. Doch genau da liegt auch das Problem: „Angenommen, alle Schulen würden morgen anfangen, ein Schutzkonzept zu entwickeln, hätten wir nicht genug Beratungsstellen, die das begleiten“, sagt Johannes-Wilhelm Rörig. „Bei uns ist es jetzt schon sehr eng“, bestätigt Hävernick. Ihre Erfahrung sei zudem: „Die Schulen haben kaum zeitliche Kapazitäten.“ Von der Senatsverwaltung heißt es, den Schulen stünden zwar Arbeitsmaterialien zur Verfügung. Aber: „Zusätzliche Stellen sind nicht vorgesehen.“
Im Fall des Lehrers an der Berliner Grundschule, der den Sechstklässler am Penis berührt haben soll, hätte mehr Sensibilität für das Thema sicherlich geholfen. Er sei Jahre später erneut übergriffig geworden, berichtet Martina Hävernick. Erst dann habe ihn die Leitung vom Dienst suspendiert.