Inhaftierte Journalisten in der Türkei: „Die Gerichte handeln verfassungswidrig“
Das höchste Gericht der Türkei hält die U-Haft für zwei Journalisten, die nur ihren Job gemacht haben, für rechtswidrig
Das türkische Verfassungsgericht in Ankara urteilte am Donnerstag, dass die lange Untersuchungshaft des Autoren Mehmet Altan und des Journalisten Şahin Alpay einen Rechtsverstoß darstelle, und ordnete ihre Freilassung an. Beide sind seit rund anderthalb Jahren inhaftiert und hatten beim Verfassungsgericht Beschwerde darüber eingereicht. Die oberste Instanz der türkischen Rechtsprechung sah in der langen Untersuchungshaft nun einen „Rechtsverstoß“, was die Freilassung der inhaftierten Journalisten zur Folge haben müsste.
Außer Zeitungskolumnen und Äußerungen im Fernsehen lägen keine hinreichenden Beweise zur Stärkung des Tatverdachts gegen die beiden Inhaftierten vor. „Die Verhaftung von Personen, ohne dass außer Texten und Reden konkrete Beweise vorliegen, kann unzweifelhaft abschreckende Wirkung auf Meinungs- und Pressefreiheit haben“, heißt es im Urteil des Verfassungsgerichts über die Journalisten, denen eine „Verbindung zu terroristischen Organisationen“ und eine „Beteiligung am Putschversuch“ vorgeworden wird.
Gerichte wehren sich gegen Verfassungsgerichtsurteil
Doch die nun von Angehörigen und Beobachtern erwartete Freilassung am Donnerstag abend fand nicht statt. Die beiden Strafgerichte in Istanbul, die für die beiden Inhaftierten zuständig sind weigerten sich, das Urteil des obersten Gerichts umzusetzen. Zur Begründung führten sie an, Urteil und Begründung des Verfassungsgerichts seien ihnen nicht zugestellt worden. Urteil und Begründung waren allerdings seit Donnerstag nachmittag auf der offizielle Website des Verfassungsgerichts einzusehen.
Altans Anwalt Veysel Ok, der auch den inhaftierten Türkei-Korrespondenten der Welt, Deniz Yücel, verteidigt, kritisiert diesen Schritt: „Die Gerichte, die der Entscheidung nicht entsprachen, handeln verfassungswidrig. Mit diesem Urteil haben die lokalen Gerichte das Rechtssystem erschüttert“, sagt er. Es gebe keinen Weg hinter die Entscheidung des Verfassungsgerichts zurück. Die Gerichte seien verpflichtet, das Urteil zu befolgen.
Der stellvertretende Ministerpräsident Bekir Bozdağ bestärkte hingegen das Vorgehen der untergeordneten Gerichte. Das Verfassungsgericht habe mit der Anordnung zur Freilassung der Journalisten seine gesetzlich festgelegte Kompetenz überschritten, erklärte er am Freitag auf Twitter. Das oberste Gericht könne in individuellen Fällen nicht wie ein „Super-Berufungsgericht“ agieren.
Wirkt sich das Verfassungsgerichtsurteil auf andere inhaftierte Journalisten aus?
Mehmet Altans Anwälte bezeichneten das Verfassungsgerichtsurteil als Präzedenzurteil, doch die Beschwerden von Ahmet Altan und Nazlı Ilıcak, die in demselben Prozess vor Gericht stehen, wurden abschlägig beschieden.
Auch wenn das Verfassungsgerichtsurteil Präzendenzcharakter hat, ist ungewiss, wie es sich auf die Fälle von anderen Journalisten mit langen Untersuchungshaftzeiten auswirken wird. Der seit dem 14. Februar 2017 inhaftierte Türkei-Korrespondent der Welt Deniz Yücel hatte bereits am 9. März Beschwerde beim Verfassungsgericht eingereicht. Yücels Anwalt Veysel Ok erklärt, das aktuelle Urteil bestätige, dass niemand aufgrund seiner Berichterstattung inhaftiert werden dürfe. Trotz des Vorgehens der Istanbuler Gerichte ist er sich sicher, dass „die Entscheidung des Verfassungsgerichts für Deniz Yücel und alle inhaftierten Journalisten nach wie vor richtungsweisend sein kann“, sagt er.
Nachdem das türkische Justizministerium vergangene Woche auf Yücels Beschwerde vor dem Verfassungsgericht geantwortet hat, läuft am Dienstag die Frist für die Antwort seiner Anwälte aus. Anschließend muss das höchste türkische Gericht darüber entscheiden, ob Yücel weiter in Untersuchungshaft bleiben muss oder für die Dauer des Verfahrens freigelassen wird.
Prof. Yaman Akdeniz von der Juristischen Fakultät der Bilgi-Universität Istanbul merkt jedoch an, dass die Unterschiedlichkeit der Fälle auch zu unterschiedlichen Urteilen führen könnte. „Diese Urteile beziehen sich erst einmal auf die jeweiligen Beschwerdeführer“, meint Yaman und weist darauf hin, wie dringlich es deswegen jetzt sei, dass das Verfassungsgericht umgehend auch über die Beschwerden von Ahmet Şık, Deniz Yücel und der Cumhuriyet-Angeklagten urteile.
Can Dündar und Erdem Gül waren freigekommen
Auch die monatelange Inhaftierung von Can Dündar, dem ehemaligen Chefredakteur der Cumhuriyet, und Erdem Gül, dem Büroleiter der Zeitung in Ankara hatte das Verfassungsgericht aufgrund ihrer Beschwerden im Februar 2016 als Rechtsverstoß gewertet und ihre Freilassung angeordnet.
Staatspräsident Erdoğan beschwerte sich damals: „Ich kann das vom Verfassungsgericht gefällte Urteil nicht anerkennen. Das lokale Gericht hätte sich dagegen wehren können. Dann wäre das Verfassungsgerichtsurteil ins Leere gelaufen.“ Frei gelassen wurden sie trotzdem.
Aus dem Türkischen Sabine Adatepe
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